Angie: Es geschah auf dem Heimweg. Christine Lamberty
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Frau Kumbrow wohnte am Stadtrand in einem älteren, aber sehr gepflegten Einfamilienhaus. Zu beiden Seiten der Eingangstür wuchsen Rosenbäumchen. Zögerlich blieb Angie vor der Haustür stehen und überlegte umzukehren. Schließlich gab sie sich einen Ruck und drückte den Klingelknopf.
Überrascht schaute Frau Kumbrow sie an. „Was führt dich zu mir?“ „Sie boten mir an zu helfen, wenn mich etwas belastet. Es ist soweit, ich weiß nicht mehr weiter.“ „Komm herein, bei einer Tasse Tee redet es sich leichter.“ Bevor sie zur Küche ging, begleitete sie Angie ins Wohnzimmer und bat sie Platz zu nehmen. Angie ließ den Blick durch den Raum schweifen. Er war gemütlich mit antiken Möbeln eingerichtet, aber nicht vollgestopft. Auf einer Anrichte standen Fotos von zwei Männern. Ein älterer und ein wesentlich jüngerer. Beide hatten große Ähnlichkeit miteinander. Bestimmt Vater und Sohn, dachte Angie.
Frau Kumbrow brachte den Tee und setzte sich neben sie. „Raus mit der Sprache! Was ist los?“ „Ich weiß nicht wo ich anfangen soll.“ Ihr Mund war trocken. Sie trank einen Schluck und begann zu erzählen. Sie sagte, dass sie keinen Autounfall hatte, sondern vergewaltigt und verprügelt wurde und das Ganze nur schemenhaft, wie in einem Vakuum wahrgenommen habe. Irgendwann sei sie vor Schmerzen in Ohnmacht gefallen und habe erst zwei Tage später im Krankenhaus das Bewusstsein wiedererlangt. Öfters frage sie sich, warum retteten mich die Jogger und ließen mich nicht sterben? Sie erzählte von den schlaflosen Nächten, den Kommentaren ihrer Mutter, dem unklaren Schwangerschaftstest und dem Glücksgefühl, als sie ihre Periode bekam und für sie die Welt wieder in Ordnung schien. „Jetzt befürchte ich doch schwanger zu sein.“ Mit diesem Paukenschlag schwieg sie. Zusammen gekauert mit glühenden Wangen saß sie auf dem Sofa. Stillschweigend nahm Frau Kumbrow Angie in den Arm. „Warum bist du nicht früher zu mir gekommen?“ „Mir fehlte der Mut.“ Plötzlich öffneten sich alle Schleusen und die Tränen rannen ihr in Sturzbächen über das Gesicht. Die aufgestauten Erlebnisse der letzten Monate brachen aus ihr heraus.
Frau Kumbrow wiegte sie hin und her, um sie zu beruhigen. „Weine! Weine ruhig, das befreit.“ Kurze Zeit später kam die Pädagogin in ihr zum Vorschein und fragte: „Warum glaubst du, jetzt schwanger zu sein?“ „Ich spürte in der Nacht ein Rumoren in meinem Bauch, ähnlich wie Blähungen. Wenn ich meine Hand auf den Bauch legte, fühlte es sich an, als wenn jemand dagegen stößt. Morgens im Bad sah ich, wie sich etwas bewegte. Ich geriet sofort in Aufruhr. Es passierte genau an meinem Geburtstag, das liegt eine Woche zurück. Seitdem traten die Symptome wiederholt auf. Ich verdrängte die Realität. Inzwischen weiß ich, dass es falsch war.“ „Richtig! Zuerst musst du einen neuen Test machen, dann sehen wir weiter. Ich besorge die nötigen Utensilien und du kommst morgen nach der Schule zu mir.“ „Warum helfen sie mir?“ „Weil du mir am Herzen liegst.“
Um ihre Nervosität zu überspielen, während sie auf das Testergebnis wartete, fragte Angie: „Warum haben sie keine Kinder? Sie wären bestimmt eine gute Mutter.“ Frau Kumbrow stand auf, nahm eine Fotografie von der Anrichte und reichte sie Angie. „Das ist mein Sohn. Er kam im Alter von zwanzig Jahren bei einem Autounfall ums Leben. Das liegt jetzt zehn Jahren zurück. Aus diesem Grunde berührte mich die Nachricht von deinem Unfall besonders. Seit gestern, weiß ich, dass dir Schlimmeres passierte.“ Sie holte eine zweite Fotografie. „Das war mein Mann. Über den Tod unseres geliebten Sohnes kam er nie hinweg und erlitt ein halbes Jahr später einen Schlaganfall, an dem er zwei Monate später verstarb. Seitdem lebe ich alleine und lege meine ganze Kraft in den Beruf. Es hilft weiterzuleben.“ Angie sagte: „Es ist traurig, wie wenig man von seinen Mitmenschen weiß und welches Schicksal jeder mit sich herum trägt.“
Frau Kumbrow stellte die Bilder zurück. „Die Zeit ist um, trauen wir uns der Wahrheit ins Auge zu sehen.“ Das Ergebnis ließ keine Zweifel aufkommen und bestätigte eindeutig die Schwangerschaft. „Was nun? Ich kann das Kind nicht bekommen.“ „Das Wichtigste ist, umgehend mit deinen Eltern zu reden. Daran führt kein Weg vorbei. Wenn du möchtest begleite ich dich.“
Als Sie das Haus betraten, hörte Angie ihre Mutter im Wohnzimmer telefonieren. Frau Möller schaute erstaunt in ihre Gesichter, beendete ihr Gespräch und fragte: „Ist etwas passiert?“ „Ja, Mama. Ich muss mit euch sprechen. Wo ist Papa?“ „Es überrascht mich, deine Lehrerin hier zu sehen. Gibt es Probleme in der Schule?“ „Nein, ihre Tochter fürchtet sich vor dem Gespräch und bat mich, sie zu unterstützen.“ „Wenn es nicht die Schule betrifft, sehe ich keine Veranlassung, dass sie sich in unsere privaten Angelegenheiten einmischen. Ich glaube meine Tochter ist alt genug, um eventuelle Probleme mit mir alleine zu besprechen.“ „Mama bitte! Hole Papa dazu. Sitzt er oben im Büro?“ „Angie, du weißt wie schwer dein Vater arbeitet und dass er für Teenagerprobleme keine Zeit hat. Ich schätze, dass wir deine eventuellen Schwierigkeiten ohne ihn bewältigen können. So schlimm werden sie ja nicht sein.“
„Entschuldigung, jetzt wundert es mich nicht, dass ihre Tochter zu mir kommt und mich ins Vertrauen zieht.“ Ihr Tonfall wurde laut und dominierend. Herr Möller eilte die Treppe herunter und rief, „was ist das für ein Lärm?“ Als er Angies Lehrerin erblickte, blieb er augenblicklich im Türrahmen stehen. „Welchem Grund verdanken wir ihrem Besuch?“ „Das sagte ich bereits ihrer Gattin.“ „Papa, ich muss mit euch beiden sprechen.“ „Muss das jetzt sein? Dann mach`s kurz!“ Eingeschüchtert blickte Angie Hilfe suchend zu Frau Kumbrow. Diese ergriff das Wort: „Seitdem ihre Tochter nach dem Unfall wieder am Unterricht teilnahm, bemerkte ich, dass sie sich von Tag zu Tag, stark veränderte. Sie wirkte traurig und oft abwesend. Ich bot ihr an, dass sie sich jederzeit an mich wenden kann, falls sie ein Problem hat. Gestern kam sie zu mir, erzählte mir von der Vergewaltigung und das sie Schlimmeres befürchtete. Was sich inzwischen bestätigte.“
>>> Ihre Tochter ist schwanger <<<
Es herrschte Totenstille. Herr Möller ließ sich neben seine Frau auf das Sofa fallen. Beide waren starr vor Schreck. Angie blickte abwechselnd zwischen ihren Eltern hin und her. „Nun kennt ihr den Grund, warum ich meine Lehrerin bat mir zu helfen. Ich fürchtete mich, alleine mit euch zu sprechen. Was machen wir jetzt? Ich will das Kind nicht.“ „Natürlich nicht“, sagte Herr Möller. „Das muss schnell und diskret über die Bühne gehen, bevor man etwas merkt. Ich rufe sofort Doktor Arendt an, er weiß sicher, was zu tun ist.“ Frau Kumbrow meldete sich wieder zu Wort und erklärte ihnen, dass die Situation nicht so einfach ist, wie sie sich vorstellten. Die Schwangerschaft ist bereits weit fortgeschritten, was einen Abbruch erschwert. Ich glaube kaum, dass ihr befreundeter Arzt wegen einem illegalen Abbruch seine Zulassung riskiert. Sie sollten umgehend die Beratungsstelle von Pro Familia kontaktieren. Eine Bekannte von mir arbeitet dort. Ich kann versuchen, dass sie kurzfristig einen Termin erhalten. Die Zeit drängt. Noch im Schockzustand sagte Herr Möller: „Wir nehmen gerne ihr Angebot an. Danke, und entschuldigen sie unsere anfängliche Unfreundlichkeit.“ Daraufhin verließ Frau Kumbrow das Haus.
„Auf den Schock brauche ich einen Drink.“ Ohne zu fragen reichte er auch seiner Frau ein Glas. Zu Angie gewandt sagte sie: „Musstest du eine derartige Angelegenheit mit deiner Lehrerin besprechen? Vertraust du deinen eigenen Eltern nicht?“
„Mit Vertrauen hat das nicht zu tun, sondern damit, dass ihr nie Zeit habt. Entweder seit ihr im Stress oder es sind fremde Leute hier. Natürlich glaubt ihr, mir alles zu geben, aber dabei handelt es sich überwiegend um materielle Dinge. Während ich im Krankenhaus lag, bildete ich mir für kurze Zeit ein, dass ihr euch um mich sorgt, leider war das nur eine vorübergehende Anwandlung. Nachdem meine körperlichen Gebrechen verheilten, gingt ihr zur gewohnten Tagesordnung