Orte des Grauens. Karin Szivatz

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Orte des Grauens - Karin Szivatz

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und zerrten mich zu einem Tisch, auf dem ein Junge lag. Ich sah in die Augen des Jungen, kaum zwanzig Jahre alt. In ihnen spiegelte sich blanke Angst. Seine Angst übertrug sich auf mich und ich wollte fliehen. Doch die beiden Männer hielten mich fest und drückten mir ein Messer mit schlanker Klinge die Hand. Der große Vogel starrte mich an und seine Augen sagten mir, ich solle die Augen des Jungen herausschneiden.

      Panisch versuchte ich, den Augen dieses Vogels zu entkommen, diesen beiden Männern zu entkommen, diesem Albtraum zu entkommen, doch zwei metallene Speerspitzen durchbohrten bereits die zarte Haut meines Halses. Der Vogel starrte, das orange Feuer loderte, die Füße stampften, die Monotonie des Gesanges hallte. Mein Hirn war leer, mein Herz stand still. Einer fremden Macht unterlegen, setzte ich die Klinge am rechten Auge an, blendete den Jungen völlig aus meiner Realität aus. Und dann stach ich zu. Beschrieb mit der Klinge einen Kreis. Dann auch im linken Auge. Der Junge schrie nicht, zuckte nicht mehr. Er lag still. Ebenso mein Verstand. Der Vogel nickte und brachte mich in mein Bett zurück.

      Am Morgen erwachte ich völlig ermattet. Der Traum war sofort präsent und ich fragte mich, wie ich nur so realistisch träumen konnte.

      Ein Blick auf die Uhr verriet mir jedoch, dass ich mich mit dieser Frage nicht mehr auseinander setzen konnte. Rasch sprang ich unter die Dusche, stopfte mir in der Küche rasch ein paar Weintrauben in den Mund und trank gierig einen Becher Milch. Mein Hals fühlte sich ziemlich rau an; gar so, als hätte ich die ganze Nacht hindurch geraucht.

      Die beiden Unterrichtsstunden waren rasch vorüber und ich begleitete Marvin nach Hause. Wir sprachen eingehend über einen zwei- bis dreimonatigen Aufenthalt im Senegal nach der bestandenen Matura. Er war total begeistert und wollte noch am Abend seinem Vater eine E-Mail schreiben, um ihm diesen Vorschlag zu unterbreiten. Um mir diesen Urlaub noch schmackhafter zu machen, erzählte er von jungen, äußerst hübschen Mädchen, die zwar anfangs recht zurückhaltend, aber immer oben ohne waren. Mit diesem sehr verlockenden Bild vor Augen verließ ich meinen Freund ohne ihm von dem mysteriösen Traum erzählt zu haben.

      Am Nachmittag rief mich Marvin an und bat um Hilfe. Ohne nachzufragen, wobei er meine Hilfe benötigte, fuhr ich umgehend zu ihm. Er wollte sein Zimmer ein wenig umgestalten und brauchte einen kräftigen Möbelpacker.

      Knapp zweieinhalb Stunden später war das Zimmer ebenso fertig wie wir. Keuchend hingen wir in den Fauteuils und klagten über Rückenschmerzen, weil wir das ganze Jahr über keine körperliche Herausforderung annahmen und uns sportlich nur sehr mäßig betätigten.

      Marvin bereitete wieder diesen senegalesischen Tee zu und wir redeten über unsere berufliche Zukunft. Über meine nächtliche Vergangenheit jedoch nicht.

      Abends übermannte mich der Schlaf bereits um halb zehn und ich verabschiedete mich für diese Nacht von meinen Eltern. Kaum lag ich im Bett, war ich auch schon eingeschlafen. Und kaum war ich eingeschlafen, träumte ich.

      Der Vogel stand wieder neben meinem Bett und nahm mich auf seine Reise mit. Erneut setzte er mich in dem Strohhüttendorf ab, in dem das Feuer noch immer loderte und die Männer noch immer ihre monotonen Gesänge in den Himmel und die Welt schickten. Auf dem Opfertisch lag dieses Mal ein Mädchen. Vielleicht vierzehn Jahre alt, vielleicht auch sechzehn. Ihre Schönheit wurde durch ihre Angst gemindert; dennoch war sie schön. Ihre festen Brüste schienen im Stakkato der benachbarten Flammen zu tanzen. Ihre Scham zeichnete sich durch den fließenden Stoff des Rockes ab.

      Noch während ich das Mädchen direkt liebevoll ansah, hatten mich die beiden Männer wieder gepackt und mir dasselbe Messer wie schon in der Nacht zuvor in die Hand gezwungen. Der Vogel starrte mich erneut an und seine Augen sagten mir, ich solle ihr die Zunge herausschneiden. Der große Geist wolle mit seinen Untertanen sprechen.

      Wortlos öffnete ich meine Hand und ließ das Messer fallen. Ich würde dem Mädchen keinen Schaden zufügen. Kein zweites Mal würde ich mich mit Blut besudeln. Nicht für einen Geist und nicht für die Dorfge-meinschaft. Ich starrte dem Vogel in die Augen. Es waren kalte Augen. Tot und verbraucht. Er drehte den Kopf und sah die beiden Krieger neben mir an. Ihre Masken zitterten, die Trommeln wurden schneller, der Rhythmus heftiger. Die beiden stampften im Gleichschritt, zwangen mich auf die Knie. Ich sollte das Messer aufheben. Ich ließ es liegen. Ich würde dem Mädchen nicht die Zunge heraus schneiden.

      Die Krieger zogen mich hoch. Ein dritter nahm das Messer an sich und zeigte damit auf den zweiten Opfertisch. Dann auf mich. Und zur Krönung noch auf meinen Mund. Die Krieger schleppten mich zum Tisch. Meine Hose färbte sich im Schritt dunkel. Mein Mut war mit den kleinen Rauchsäulen des Feuers in den dunklen Himmel gefahren; ein Geist wird ihn sich holen.

      Die Krieger ließen mich los. Stampften weiter mit den Füßen. Irgendwo erklangen leise Glöckchen. Der Vogel starrte. Ich griff in den Mund des Mädchens und trennte die Zunge ab. Das herausquellende Blut nahm ihr Leben mit sich. Spritzte mir ins Gesicht. Auf die Schultern. Den Hals. In meinen Mund. Ließ mich den Geschmack des Todes, des Vergehens, des Endes kosten. Ich sah das Mädchen nicht mehr an. Wandte mich an den Vogel und ließ mich nach Hause bringen.

      Frühmorgens erwachte ich mit massiven Kopfschmerzen, die mich sofort an meinen Traum erinnerten. „Herrgottnocheinmal!“, schimpfte ich laut ins leere Zimmer, stand auf und nahm eine Schmerztablette. Ohne richtig zu begreifen, was ich tat, suchte ich gleichzeitig die Pille des Vergessens im Medikamentenschrank. Ich wollte diese Träume vergessen. Musste sie vergessen. Durfte sie aber scheinbar nicht vergessen.

      Matt hing ich in des Unterrichts am Sessel und konnte den Worten der Lehrer während der wenigen Stunden kaum folgen. Immer wieder nickte ich ein wenig ein. Oder ich ertappte mich dabei, wie ich die Träume der letzten beiden Nächte Revue passieren ließ.

      Marvin wollte nach Unterrichtsende in die Pizzeria um seine Heimkehr zu feiern. Die Pizza war gut wie immer, doch an ihr klebte ein kupferner Beigeschmack von Blut. Ich fand, es war an der Zeit, meinem Freund von diesen Opferritualen zu erzählen. Doch meine Zunge war wie gelähmt. Sie ließ dieses Thema nicht zu. Jedes andere durchaus. Nur dieses nicht.

      Angewidert schob ich die Pizza beiseite und entschuldigte mich. Marvin nahm es mir nicht übel und machte sich über meine Hälfte auch noch her. Er sei schließlich noch im Wachsen, erklärte er lachend. Mühevoll rang ich mir ein Lächeln ab und sackte in mir zusammen. Ich konnte nicht verstehen, weshalb ich mit ihm nicht über den Traum sprechen konnte.

      Nachdem er aufgegessen hatte, schleppte ich mich nach Hause. Die Hausaufgaben erledigten sich nicht wie sonst auch, von selbst. Das Blatt blieb leer, so lange ich es auch anstarrte. Mein Gehirn verweigerte seinen Dienst und schrie nur noch nach Schlaf. Nach Ausruhen und Entspannen. Doch überbordende Angst vor einem neuerlichen Traum hielt mich wach. Angst und Verstand kämpften miteinander. Ich versuchte, meinen Verstand mit einer weiteren Schlaftablette zu unterstützen; was mir letztendlich auch gelang.

      Aber die Tablette konnte den Vogel nicht von seinem Kommen abhalten. Gnadenlos zerrte er mich aus dem Bett und trug mich erneut hinfort. Weit hinauf in den dunklen Himmel, hinab in das Feuer beleuchtete Dorf.

      Auf dem Opfertisch lag ein Mann, groß und kräftig. Mit Muskeln aus Stahl. Augen wie ein Falke. Zähne wie ein Hai. Er flößte mir Furcht ein, obwohl er streng gefesselt und wehrlos war. Als ich eine Axt in die Hand gedrückt bekam, wich sein Falkenblick der puren Angst. Schweiß trat auf seine Stirn und seine Lippen zitterten.

      Der Geruch des Feuers legte sich wie eine Decke über den Dorfplatz. Das Stampfen der Füße war zu einem Dröhnen angeschwollen. Der Vogel starrte. Hack’ ihm den Arm ab, sagten seine Augen, hack’ ihm den Arm ab. Der große Geist möchte ins Geschehen seiner Untertanen eingreifen.

      Doch anstatt dem Mann den Arm abzuhacken, schlug ich mit der Axt wild um mich und wollten den beiden Kriegern den Kopf abschlagen.

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