Orte des Grauens. Karin Szivatz
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Orte des Grauens - Karin Szivatz страница 3
Die Augen hinter den Holzmasken waren allesamt auf mich gerichtet. Warteten lauernd. Die Münder hinter den Masken stießen Jubelschreie aus, als die Axt den Arm vom Körper des Mannes trennte. Seine Schreie hingegen gingen mit mir auf die Heimreise und verharrten noch die ganze Nacht an meinem Bettrand.
Ich erwachte um vier Uhr morgens. Mir war übel und ich musste mich übergeben. Die heftigen Kopfschmerzen setzten erneut ein und ich fühlte mich völlig ausgebrannt. An Schlaf war nicht mehr zu denken. Ich zappte mich durch die unzähligen Kanäle des Fernsehens. Immer wieder las ich Teile von Schlagzeilen, die über den Bildschirm eilten. Doch bei einer machte ich halt. Und erstarrte.
‚Menschenopferungen im Senegal’. Meine Müdigkeit war schlagartig weg und ich drehte den Ton lauter. Es wurde von drei rituellen Menschenopfern bereichtet, die sich während der letzten drei Tage zugetragen hatten. Die Opfer waren grausam verstümmelt worden, die jeweils fehlenden Körperteile waren unauffindbar.
Mir wurde erneut übel und ich stolperte aufs WC. Ich übergab mich noch immer heftig, obwohl mein Magen längst leer war. Ich versuchte damit, die Schuld aus mir zu schleudern. Mich ihrer zu entledigen. Mich innerlich zu säubern.
Doch die Schuld blieb und belastete meinen Magen, meine Schultern und meine Psyche. Ich konnte nicht begreifen, was hier vor sich ging. Aber ich konnte fühlen, dass ich Schuld auf mich geladen hatte. Und dass dieser Wahnsinn ein Ende finden musste.
Rasch startete ich den Computer und fand heraus, dass es sich bei meinem Vogeltaxi um den Heiligen Ibis handelte. Er lebte unter anderem in Senegal. Und in Senegal waren in früheren Zeiten Menschenopfer durchaus üblich. Heute nicht mehr. Noch dazu befand ich mehr als viertausend Kilometer weit weg. Es war Zufall. Nichts als Zufall.
Doch dieser Zufall beschäftigte mich den ganzen Tag. Der Unterricht zog an mir vorbei wie der nächtliche Ibis an der Welt. Erneut versuchte ich, die Geschichte Marvin zu erzählen, doch meine Zunge versagte ihren Dienst. Auch bei meinem Deutschlehrer. Und dem Schulwart. Selbst bei meiner Mutter. Ich wollte es jemandem erzählen. Musste. Irgendjemandem. Egal, wem. Doch meine Zunge blieb gelähmt.
Panisch verfolge ich den Lauf der Sonne. Wenn sie unterging, würde ein weiterer Mensch durch meine Hand sterben. Ich wusste nun, dass es kein Traum war. Und ich wusste auch, dass ich etwas dagegen unternehmen musste.
Mit zwei Schlaftabletten, dem Polster und einer Decke kletterte ich ins Baumhaus. So wollte ich den Heiligen Ibis austricksen. Er sollte mich nicht in meinem Zimmer, in meinem Bett vorfinden. Dann würde er unverrichteter Dinge wieder abziehen. So war mein Plan. Doch der Ibis stand im Baumhaus. Gar so, als hätte er den Ortswechsel nicht bemerkt.
Er packte mich am T-Shirt und erhob sich in die Lüfte. Nach dem Flug landeten wir im altbekannten Dorf. Zu den altbekannten Klängen. Beim altbekannten Feuer. Die Trommeln schlugen so laut, dass die Gesänge nicht mehr hörbar waren. Nur spürbar. Die Luft vibrierte. Roch nach Verwesung. Umspielte mich mit grausamer Sanftheit.
Auf dem großen Opfertisch lag ein kleiner Junge. Er würde gerade einmal im Kindergarten aufgenommen werden, so es einen gäbe. Der kleine Junge schlief. Ein gnädiger Dorfbewohner hatte ihm einen wirksamen Schlaftrunk verabreicht.
Stumm dankte ich dem Unbekannten, obwohl meine Augen tränennass waren. Meine Nase brannte und ich spürte kalte Schauer über meinen Rücken jagen. Ich würde das Kind nicht retten können. Ein weiterer Ritualmord. Eine weitere verstümmelte Leiche. Ein weiterer Stein auf meiner Seele. In meinem Magen. Auf meinem Grab.
Das Auge des Ibis wurde wieder lebendig. Der große Geist möchte hören, was seine Untertanen reden. Schneide dem Kind die Ohren ab. Das Auge sprach klar und verständlich. Es traf mich tief in meinem Innersten. Und ließ mich bluten.
Die beiden Krieger packten mich nicht. Sie wussten, dass ich keinen Widerstand mehr leisten würde. Ich war bereits gebrochen. Mechanisch schnitt ich beide Ohren ab. Blut floss in Strömen über meine Hände. Mischte sich mit meinen Tränen der Verzweiflung. Und zog sich als roter Faden bis in mein Baumhaus.
Morgens wachte ich auf und war unfähig, die Sprossen in den Garten hinunter zu steigen. Mit offenen Augen lag ich auf dem Rücken und war tonnenschwer. Ich wusste, dass ich nicht zur Schule gehen konnte. Und dass ich nicht mehr einschlafen durfte. Jeder Schlaf bedeutete einen Toten. Und letzte Nacht hatte ich ein Kleinkind getötet.
Meine Kraft reichte für einen Weinkrampf nicht mehr aus. Dabei hätte ich ihn so dringend gebraucht. Ich war verzweifelt. Am Ende. Ausgelaugt und selbst dem Tode nahe. Etwas musste geschehen. Doch ich wusste nicht, was.
Als ich es endlich doch noch schaffte, das Baumhaus zu verlassen, musste ich meiner Mutter keine Erklärung abgeben. Sie sah, dass ich krank war und benachrichtigte die Schule. Und den Arzt. Und selbstverständlich auch Marvin.
Die Schule registrierte den Anruf, der Arzt und Marvin kamen zu mir. Es wurde ein grippaler Infekt vermutet, aber zur Sicherheit Blut abgenommen. Marvin versuchte herauszufinden, was mir fehlte. Ich konnte es ihm nicht sagen. Dann fuhr er in die Schule, um gleich nach Unterrichtsende wieder zu kommen. Und er blieb bei mir. Den ganzen Nachmittag über. Und auch am Abend.
Um nicht wieder einen Mord begehen zu müssen bat ich ihn, die Nacht über bei mir zu bleiben. Ohne Erklärung. Marvin blieb. Ohne zu fragen.
Doch der Ibis holte mich auch in dieser Nacht. Er trug wieder mich an die Stätte des Grauens. Des Mordens. Der Rituale.
Auf dem Tisch lag Marvin. Geknebelt. Gefesselt. Starr vor Angst. Todesnah. Ich sah ihn an. Ohne Atem. Ohne Herzschlag. Ohne ersticktem Schrei.
Der Vogel starrte. Riss die Aufmerksamkeit an sich. Befahl mir stumm, mich ihm zu unterwerfen. Ein weiteres Mal. Befahl mir, dem großen Geist ein Herz zu schenken. Damit er Mitleid haben konnte. Mit den Menschen. Um kein weiteres Opfer mehr zu fordern.
Mir wurde übel, doch mein Magen streikte. Nicht einmal ein vages Würgen brachte ich zustande. Die Krieger waren nicht an meiner Seite. Sie stampften im ohrenbetäubenden Trommelwirbel um das große Feuer, das sich seinen Weg durch die Finsternis bahnte. Niemand sah mich an. Nur der Vogel starrte. Ich wusste, dass ich keine Wahl hatte. Ich musste meinen Freund für all die vielen Menschen opfern, die der große Geist gewiss noch fordern würde.
Das Messer lag bereits auf dem Tisch. Entschlossen nahm ich es und setzte es mir an die Brust. Der Vogel schüttelte den Kopf. Ein unnötiger Tod. Völlig unnötig. Es wird sich nichts ändern. Seine Augen sprachen und waren doch längst tot.
Ohne Marvin in die Augen zu sehen stach ich in sein Herz. Die Trommeln verstummten. Die Gesänge verhallten. Das Feuer erlosch. Das Stampfen verebbte. Die Holzmasken fielen. Der Vogel sackte zusammen. Marvin starb.
Ich erwachte in meinem Bett. Marvin schlief auf der Couch. Sein Herz pochte rhythmisch. Ließ bei jedem Schlag das T-Shirt ein klein wenig erzittern. Von weit her waren Trommeln zu hören. Sie kamen näher. Dann das Stampfen von Füßen. Die Gesänge der Krieger hallten plötzlich durch den Raum. Das Feuer begann zu lodern. Der Heilige Ibis starrte mich an. Mein Hirn war leer. Mein Verstand verbraucht. Die monotonen Gesänge wurden lauter, pochten in meinen Schläfen.
Ich nahm den Brieföffner und tanzte mit den Kriegern im Rhythmus der Trommeln. Erneut trieb ich meinem Freund das Messer ins Herz.
Die Trommeln verstummten. Die Gesänge verhallten. Das Feuer erlosch. Das Stampfen verebbte. Die Holzmasken fielen. Der Vogel sackte zusammen. Blut sickerte aus meinem Freund. Ich wandte mich ab. Sah nicht in seine