Der falsche Ton. André Vladimir Heiz
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André Vladimir Heiz
Der falsche Ton
Roman
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Inhaltsverzeichnis
Stimmgabel
„Für alles ist eine Zeit, eine Frist für alles Anliegen unter dem Himmel, eine Frist fürs Geborenwerden und eine Frist für das Sterben, eine Frist fürs Pflanzen und eine Frist fürs Entwurzeln des Gepflanzten, eine Frist fürs Erschlagen und eine Frist fürs Heilen, eine Frist fürs Niederbrechen und eine Frist fürs Erbauen, eine Frist fürs Weinen und eine Frist fürs Lachen, eine Frist fürs Klagen und eine Frist fürs Tanzen, eine Frist fürs Steinewerfen und eine Frist fürs Steinestapeln, eine Frist fürs Umschlingen und eine Frist, sich vom Umschlingen fernzuhalten, eine Frist fürs Suchen und eine Frist fürs Verschleudern, eine Frist fürs Aufreißen und eine Frist fürs Vernähen, eine Frist fürs Schweigen und eine Frist fürs Reden, eine Frist fürs Lieben und eine Frist fürs Hassen, eine Frist des Kriegs und eine Frist des Friedens. Was ist da der Vorteil dessen, ders tut, bei dem, womit er sich abmüht?“
Versammler
(Die fünf Rollen in der Übersetzung
von Martin Buber und Franz Rosenzweig.)
„La vie est faite de morceaux qui ne se joignent pas.“
François Truffaut, Les deux anglaises et le continent.
Solo
„Wo bin ich?“
Die Sonne kommt, Frank wird aus dem Halbschlaf gerissen. Vor Kurzem noch am Schatten steht sein Liegestuhl nun in zufälligem Licht. Ach, er hätte doch damit rechnen müssen. Meistens stellt er seinen Liegestuhl gegen die Zypressenwand, bevor er sich seiner gewohnten Siesta hingibt. Heute aber – die Wolken hängen tief, der Wind weht aus dem Massif des Maures herüber – war eine solche Aufhellung beim besten Willen nicht vorauszusehen. Während dieser Jahreszeit hat die Sonne einen zwiespältigen Stand.
Frank war einfach zu träge. Nach dem kategorischen Aperitif und einem üppigen Mahl sank er weinselig in seinen Liegestuhl. Es übernimmt ihn ist seit Wochen täglich. Wenn nur die quälende Aufsässigkeit der Erinnerung nicht wäre: Frank wird von der Vergangenheit heimgesucht. Mit beiden Füssen auf dem Boden war ihm das Vergessen immer leicht gefallen, ja, sogar Vergeben war Prinzip, was bei diesem Bild von Mann die gewohnten Verdrängungen einschließt.
Ausflüchte scheinen ihm seit einiger Zeit nicht mehr zu gelingen. Erinnerungen lauern auf und fallen über ihn her. Nur Wein und Schlaf lassen ihn nach dem Essen etwas Ruhe finden. Wenn er jedoch aus der Obhut seiner Siesta wieder zu sich kommt, sind die Bilder zum Greifen nah. Anna, sagt er halblaut zu sich selber. Aber das ist nur der Anfang, ein möglicher Anfang unter vielen anderen, wenn die Erinnerung Buch führt. Anna? Es hätte auch Eva sein können.
„Ich hab ein Rendezvous mit dem Wind“...
Drei Jahre an der Seite seiner Maman liegen hinter ihm. Die Erinnerung ist anhänglich, die Anhänglichkeit hält die Erinnerung wach, ein Teufelskreis. Die Rolle als Pfleger hätte er sich niemals selbst ausgesucht, obschon sie ihm mit der Zeit wie auf den Leib geschrieben schien. Seine geliebte Maman hätte er weiß Gott nie im Stich gelassen. Ein anderer Lebensentwurf war ihm versagt geblieben. Er hatte alles aufgegeben, um nichts anderes mehr zu beginnen.
So ist es, nichts zu machen. Vielleicht hätte Freund Igor für diesen einfachen und ehrlichen Befund Verständnis gehabt, er kennt sich in Sackgassen aus.
Erzählen – das tut Frank seiner kranken Maman zuliebe. Es lenkt sie von den Schmerzen ab. „Bitte“, sie braucht es nicht einmal zu sagen, es ist ihren Zügen anzusehen. In ihren Augen flackert unvermittelt Lebendigkeit auf, wenn sie die vertrauten Namen vernimmt: Mona und Tim, Elena und Clemens, Ruth und Valentin, Vanessa und Cesare, Igor, Roman und wie sie alle heißen. Anna aber hat sie ins Herz geschlossen. Sie ist der rote Faden im atemlosen Fluss der Aufzählungen.
Lesen wäre Maman zu anstrengend. Vorgelesen wird hin und wieder ein Nachruf aus der Zeitung, sonst aber dreht sich alles um die Geschichten von Frank, die angeblich sein Leben schrieb. Für Maman ist die Ununterbrochenheit die reine Wahrheit, daran hält sie sich.
Trost findet sie in den steten Verwicklungen, im täglichen Auf und Ab der tragischen oder komischen Momente, die – wie bei kleinen Kindern – am liebsten noch einmal jene vom Vortag sind. Fragen zu stellen und zu unterbrechen, das vermag sie im engelhaften Zustand ihrer Schwäche nicht mehr. Im augenblicklichen Aufflackern ihrer Züge ist nachzulesen, wenn Frank abweicht oder gar verkürzt. Zuweilen kann das Erzählen auch Frank selbst beflügeln. Er ist ganz begeistert, wenn ihm eine Szene einfällt, die bislang durch das Netz der Wiederholungen fiel. Ein Lächeln streift sein Gesicht, denn in diesem Augenblick hat ihn das wahre Leben tatsächlich auf seiner Seite.
Maman scheint das Maß der Zeit verloren zu haben. Unterbrochen wird der Lauf des Erzählens nur, wenn sie einnickt. Sie meint dann, von ihren Träumen auf die richtige Fährte gelockt, an der Bar zu stehen, miterleben zu können, wofür sie ihn früher insgeheim bewunderte, Frank, ihren einzigen Sohn, der in der ganzen Welt herumgekommen ist. Keine Frage, er hat etwas erlebt.
Sie steht an der Bar, Tipptopp, ihre Träume entführen sie. Sie befindet sich unter den jungen Frauen, die Frank begehrt. Sie muss nicht einmal vorgestellt werden, sie wird sofort erkannt. Sie taucht auf und ist im Kreise der Gäste an der Bar bereits aufgenommen. Sie ist eine zufällig weitere, aber jederzeit willkommene Gegenwart in Person. Roman, wie immer zuvorkommend, bietet ihr seinen Hocker an. Sie sieht sich im Spiegel und darin auch Igor. Sie ist im Bild. Er sitzt im hinteren Teil der Bar wie immer. Er würde ausnahmsweise aufstehen, um sie zu begrüßen, comme il faut.
Sie wäre liebend gern Großmutter gewesen. Sie wünschte sich einen Springinsfeld, der durchs Feuer geht, einen unbestechlichen Querkopf, der sich auf seinem Weg zum Höhepunkt von niemandem aus der Fassung bringen lässt. Einen