Der falsche Ton. André Vladimir Heiz
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Der falsche Ton - André Vladimir Heiz страница 3
„Die Gefühle haben Schweigepflicht!“...
Einige Wochen nach dem Tod seiner geliebten Maman geht Frank in die kleine Schreibwaren- und Buchhandlung im Dorf, wo er seit seiner Rückkehr noch nie gesichtet wurde. Er kauft zum Erstaunen der Verkäuferin einen Ordner, ein alphabetisches Register und Papier. Das geht in Ordnung.
Dieser Schritt, der ihn über den Dorfplatz in den Laden führt, ist so außerordentlich und auffällig, dass er bald einmal die Runde macht. Man spricht ihn darauf an, als er einen Pastis bestellt, auf der Terrasse der Bar Aux Oliviers. Auskunft gibt er nicht. Die Fragen bleiben offen. Roman fällt ihm ein, ach, der besonnene Roman hätte an seiner Stelle eine Antwort gefunden. Endlich macht Frank mit seinem Vorsatz ernst. Zuhause beginnt er eine Liste zu erstellen: Vornamen als Erstes.
Die Liste, oh Schreck! Seine Wahrnehmung war immer selektiv gewesen, wenn auch hellwach, wie er selber meint, aber entschieden genug, um Prioritäten setzen zu können. Jetzt aber ist er in Verlegenheit vor einem weißen Blatt Papier, das kennen wir.
Selten hatte er überlegen müssen, welches Wort zu wählen war. Das Leben hatte an seiner Stelle den Ton getroffen, angemessen und passend fiel er meistens aus. In dieser für ihn ungewohnten Situation vor einem Blatt Papier, einen billigen Kugelschreiber in der Hand, macht ihm auf einmal jedes Eigenschaftswort zu schaffen, das er hinter einen Vornamen setzen will. Womit beginnen? In der praktischen Anwendung wird er von den Wörtern im Allgemeinen enttäuscht und von seinen eigenen Unzulänglichkeiten im Besonderen sitzengelassen.
Er erfährt am eigenen Leib, dass die inneren Bilder zwar halten, was sie versprechen, wenn ihnen die Ähnlichkeit Verbindlichkeit unterstellt, dass es mit den Wörtern aber ganz anders ist. Sie sind schlicht und ergreifend unzuverlässig, gar unzulässig, sollen sie den Augenblick eines Eindrucks treffen oder einen Abend überleben.
Vielleicht war es ja nur die atmosphärische Gleichzeitigkeit der Gespräche, des Rauches und der Musik, die ihm das richtige Wort zugespielt hatte, Wörter, die am folgenden Tag bereits vergessen oder an der Bar spontan durch andere ersetzt werden konnten. Wie immer – das Wort war ihm noch nie in die Quere gekommen. Ein Mann, ein Wort, keine Ursache.
Hinter Anna hätte er nun ein beachtliches Lexikon von Eigenschaften schreiben mögen, so beweglich und bewegend erscheint sie ihm. So ist Anna. Wie nahe sie ihm jetzt kommt, die Anna! Welche Anna? Das ist die Frage, für die es immer nur eine Lösung gibt, ein mögliches Wort unter vielen anderen. Warum genügt nicht schlicht und einfach Anna? Punkt! Damit beginnt kein Buch.
Die Liste wird bald einmal vertagt. Die Essenszeit begründet den Vorwand; vorübergehend stellt sich Erlösung ein. Morgen ist auch ein Tag. Von der Flasche Rotwein bleibt kein Tropfen. Heute, hellsichtig genug, stellt er seinen Liegestuhl vor die Zypressenwand.
„Träume der Jugend verwehen, dann fängt das Leben erst an“...
Ungeachtet der Liste, mit der er nach den anfänglichen Unwegsamkeiten zuzuwarten gedenkt, fällt ihm als Laie auf, was Schriftsteller immer wieder übersehen. Weil sie gutgläubig und verbissen dran bleiben, entgeht ihnen, dass es die chronologische Stringenz ist, um die sie sich so angestrengt bemühen, die dem wahren Leben vollkommen widerspricht.
Im Leben geht es gar nie vorwärts, denkt Frank an dieser Stelle. Kein Mensch muss sich darum kümmern. Das eine folgt selten auf das andere, wie es vorgesehen ist. Das Da-Sein kommt ohne Reihenfolge aus. Wie an der Bar, wo der Augenblick darüber entscheidet, wer vorkommt. Betritt jemand die Bar, ist schon alles klar. Von der Vergangenheit nur eine Andeutung, von der Zukunft keine Ahnung. Man wird sehen. Für den Anfang genügt ein Name, ein Vorname ohne Eigenschaftswörter. Schön, dass du da bist!
Der Körper macht die Zeit aus und gibt ihr ein erlebbares Maß. Und nicht die Geschichte. Sie jedoch führt uns die sinnliche Verzerrung des Chronologischen als schwachen Trost vor Augen. Aus diesem Grund wohl konnte seine Maman ununterbrochen zuhören. Der Sinn lag ausschließlich in der bruchlosen Vortäuschung des Unendlichen. Eine beliebige Folge und unterhaltsame Fortsetzung nährte die Illusion, durch die Überbrückung der Zeit würde die Frage nach dem Sinn aufgehoben. Die Lückenlosigkeit als Sinnersatz – das ist es!
Frank scheint der Sache näher zu kommen. Wenn auf einer Landkarte zwei Orientierungspunkte ausgewählt werden, was macht den Weg wirklich aus? Die Anteilnahme der Wahrnehmung, das Gehen als Geschehen – im Gegensatz etwa zum Finger, der zielgerichtet eine direkte Verbindung herstellt. Aber diese Zeitspanne zwischen einem Aufbruch zu Beginn und einem Ankommen am Ende lässt sich nicht abbilden und nicht beschreiben, von den Höhen und Tiefen ganz zu schweigen. Punkt Schluss. Frank lächelt. Diese Folgerung wird ihm an dieser Stelle von Igor zugespielt, obschon dessen Herleitung und Beweisführung tiefschürfender ausgefallen wären.
„Als ob es gestern gewesen wäre“...
Die Liste murmelt Frank nach der Siesta, nichts einfacher als das! Vor der Renovation seiner Bar Tipptopp war ihm ja auch eine brauchbare Aufstellung geglückt, unter der Hand, pingelig genau. Hinter den Bestellungen der Materialien, der Farben und des neuen Mobiliars standen die Namen. Genaue Anweisungen, Daten und Zeitfenster gaben Auskunft darüber, wer was wann übernehmen würde. Begleitenden Skizzen zum Umbau in allen Einzelheiten war der künstlerische Schmiss nicht abzusprechen. Von den Frauen einmal abgesehen, deren Bewunderung keine Grenzen kannte, waren auch die Handwerker von seiner Planung beeindruckt. Übersichtlicher und verständlicher hätten sie den bevorstehenden Umbau nicht zur Darstellung bringen können. Da gab es nichts zu mäkeln.
Eine Liste ist eine Liste ist eine Liste und nicht mehr. Keine Frage. Allein, mit den Namen zu beginnen, verstellt den Blick. Schon meint Frank alle Geheimnisse seiner literarischen Neigung gelüftet zu haben. Im Gegensatz zum wahren Leben an der Bar kommen die Namen erst am Schluss an die Reihe. Zuerst steht die Persönlichkeit im Mittelpunkt, ihre Konturen und Gewohnheiten, ihre Umgebung und der lebensweltliche Hintergrund, aus dem sich ihre Figur bildlich herausschält und selbst erklärt. Wenn das keine gute Methode ist! Frank kommt in Fahrt.
Ein Bartresen ist ein Bartresen ist ein Bartresen und nicht mehr. Die Bühne ist gebaut. Das Register und der Ordner werden zur Hand genommen. Frank stellt einen Klapptisch vor die Zypressenwand. Jetzt ist er aus dem Gröbsten heraus; die Geschichte wird neu geschrieben.
Erstens: Die Apokalypse, der Auszug aus Ägypten, der Ätna, das ewige Feuer, die erstarrte Lava, der verlorene Sohn, der Messias, der Anführer, der Aufklärer, ein rebellisches Naturell, dem die Massen zu Füssen liegen, Doppelpunkt:: Lukas, Lukas zum Beispiel, Werner auf keinen Fall.
Zweitens: Gestreifter Anzug, Seidenkrawatte, Windsorknoten, die Memoiren von Churchill, immer rasiert, zur Schlacht bereit, Gibraltar, Untergrund, Falschgeld, Sieger, Verlierer, Lügen und Wahrheit, Leben und Tod, Doppelpunkt:: Oskar, Stanislas oder Igor. Substantive haben es in sich. Die halbe Geschichte ist durch freie Assoziationen gedeckt. Eine löst die andere ab.
Frank weiß nicht, dass Schriftsteller ersten Würfen geduldig eine Spanne zugestehen, um später ohne Vorurteile darauf zurückzukommen. Er aber liest die Stichwörter bereits ein erstes Mal durch; das Ergebnis ist niederschmetternd. Außenseiter haben die Neigung, die erste Geige spielen zu wollen. Mit Einzelgängern ist kein Buch zu machen, das sieht Frank ein, bevor er damit begonnen hat. Obwohl ihm die Vorbilder fehlen, kommt er intuitiv mit den bewährten Techniken des Erzählens in Berührung.
Gegen