Der falsche Ton. André Vladimir Heiz
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Auch Engel, die sich auf einem Barsessel auf die unwirtliche Welt einlassen, müssen bekanntlich in der Sprache unterkommen, um sich verständlich zu machen. Ja, sogar Clownfische eignen sich vor der Küste Madagaskars ein drittes Zeichen an, um ihre Artgenossen zu begrüßen. Gott aber wäre ihnen in jedem Fall ein ungebetener Gast, fehlte noch, dass einer wie er an der Bar auftaucht und meint, ein Wort mitreden zu müssen.
Wenn sie nicht hierher kämen, hier vorkämen, jeden Abend, um ein Bier, einen Whisky oder etwas Exotisches zu bestellen, das Frank ihnen hinzaubert, hätte alles auf der Stelle ein Ende. Niemand würde die unerträgliche Stille brechen, dem gleichgültigen Lauf der Zeit etwas entgegenhalten, das makellose Weiß mit Lebenszeichen ausfüllen. Zum Wohl!
Aber deswegen sind sie ja da, Gott sei Dank. Heute nehme ich einen Martini mit Eis, Frank, hast Du das Herbstlicht gesehen? Sie stehen und sitzen an der Bar, weil es darüber hinaus keinen Grund gibt, unter den Füssen oder vor Augen. Schön, dass du da bist, Anna!
Die Bar ist eine Eröffnung. Mehrere Sphären tun sich gleichzeitig auf. Der regelmäßige Aufenthalt behaftet sie auf ihre Gegenseitigkeit. Die Begrüßungen rufen sie auf der Stelle zurück. Ihre Körper berühren sich, wenn Hocker näher gerückt werden, sie können sich riechen. Da fängt die Welt an, da geht sie in etwas anderes über als sie selbst. Was jedoch? Etwas Ähnliches oder etwas Fremdes? Beides! Sie schwärmen in verschiedene Windrichtungen aus. Es kommt darauf an, wie gut sie gelaunt sind und wie viel sie bereits getrunken haben. Alles geht im Großen und Ganzen auf. In dieser heiteren Atmosphäre beleben sie sich gegenseitig. Sie sind füreinander da. Darüber gibt es selten Zweifel. Das ist jedoch nur die eine Seite.
Die andere besteht aus Einbildungen und Vorstellungen, Anwohnerschaften ihrer selbst, lauter Blasen, die sie umgeben. Da nisten ihre Träume, Keime ihres Werdens, von dem sie sich noch so viel versprechen. Dahin scheren sie aus, da suchen sie Zuflucht, auch wenn sie da sind, das Glas in der Hand. Ein einziges Wort kann der Auslöser sein. Es fällt und entführt sie in ihre Eigenwelt. Das Passwort verschafft ihnen den Zutritt zu verführerischen Binnenräumen. Darin können sie sich frei entfalten. Sie sitzen zwar da, an der Bar, aber die parallelen Sphären ihrer eigenen Bilder beurlauben sie von ihrer Anwesenheit. Jetzt sind sie nämlich gleichzeitig unterwegs, vielleicht auf dem eigensinnigen Weg zu sich selbst.
Das Ungefähr nimmt Formen an, Nächte sind es, an die sie denken, Zimmer sind es, die sie sehen, das Fenster wird ihnen am Morgen den schönsten Ausblick bieten, Feuer, Wasser, Himmel, ein gelobtes Land. Oder sie schauen gar über sich selbst hinaus und nehmen in diesem freizügigen Zeitraum Anlehnungen auf. Dann sind sie ihren Vorbildern und Ahnen auf der Spur.
Sie haben alle einen Vorläufer, einen Wiedergänger, sie haben einen Zwillingsbruder oder eine Halbschwester. Die haben es geschafft oder sind noch nicht geboren. In diesen Verdoppelungen wartet die Zukunft auf sie. Sie brauchen sich nur anzuschmiegen, ihre Begrüßung auf die andere Seite gerichtet zu wiederholen, um in der Fülle der Hoffnungen aufzugehen. An ihrem Eigennamen halten sie weiterhin fest, wenn sie abrupt zurückversetzt werden, an die Bar, wo der festgefahrene Teil ihrer selbst sitzt. Diese Selbstverständlichkeit empfängt sie nun wieder. Sie sind fremdgegangen; der Abstecher ist jedoch unbemerkt geblieben.
Woher sie kommen? Wohin sie gehen? Wenn sie wüssten. Sie finden auf diese endlichen Fragen nur flüchtige Antworten. Sie kennen zwar die geläufigen Erklärungen, die man ihnen aufgedrängt hat, weil es offensichtlich keine besseren gibt, aber sie passen ihnen nur im Notfall oder wenn sie vollkommen übermüdet sind.
Sie sind gebrannte Kinder. Wie klein man sich machen muss, das ist ja unerhört, wenn man unter den Wehen, die sich alle drei Minuten wiederholen, ausgestoßen wird, ein für allemal, das hält ja kein Kopf aus, wenn der da durchmuss. Seither kennen sie Engpässe in allen Lebenslagen.
Sie müssen den Nachweis ihres Daseins immer wieder antreten, jeden Tag und jeden Abend aufs Neue, sonst würde kein Mensch glauben, dass es sie wirklich gibt. Erst mit der Zeit und durch die Wiederholung ihrer gegenseitigen Beschwörungen nehmen sie Hand und Fuß an. Sie hören auf einen Namen, der nicht auf ihrer Identitätskarte steht.
„Du da, das gibt’s ja nicht!“...
Ganz die Mama! Hast du die Mütze angezogen? Hast du die Handschuhe eingesteckt? Vergiss den Schal nicht! Es ist noch kühl, heute Morgen. Hast du auch wirklich gefrühstückt und dann die Zähne geputzt? Sunhild, ihre Tochter, sagt am anderen Ende des Drahtes nur ja. Sie kennt die morgendlich gewohnten Nachfragen, die wie ein Refrain den neuen Tag begrüßen. Ja zu sagen, macht alles einfacher.
Maria nimmt ihren Dienst am frühen Morgen auf. In der Tiefgarage steht der Dienstwagen bereit. Der Chef gesteht ihr den Mercedes zu, er schätzt ihre Zuverlässigkeit.
Christian Fleck ist ihr erster Kunde, Tag für Tag. Wenn sie in die Querstraße des vornehmen Wohnquartiers einbiegt, steht er bereits vor der Haustüre. Guten Morgen, Maria, gut geschlafen? Sobald sie bei der Ausfahrt der Hochstraße zum Hafenviertel ankommen, ruft sie ihre Kinder zu Hause an. Christian Fleck wird Zeuge ihrer mütterlichen Sorge. Schläft dein Bruder noch? Pass auf dich auf! Ich umarme dich, bis später. Wenn Lukas nur endlich begreifen würde, dass man im Leben rechtzeitig aufstehen muss. Sie seufzt. Fleck zeigt Verständnis. Nach diesem morgendlichen Wortwechsel wird sie ihn in den Tag entlassen. Außer den üblichen Höflichkeiten, die am Rande ausgetauscht werden, bestimmt ihr Anruf die Fahrt.
Christian Fleck erkennt die Stimme ihrer Tochter Sunhild sofort, diese schlaftrunkene Folge von ja, ja, jaja die an der erwarteten Stelle aus dem Lautsprecher in den Wagenraum fallen. Alles in Ordnung? Christian Fleck kann nicht umhin, die Frage zu stellen, wenn sie das Gespräch beendet. Als Mitwisser auf dem Nebensitz scheint ihm die angespannte Atmosphäre väterliche Gefühle abzuverlangen.
Er steigt immer am Eingang des Hafenviertels aus, um ein kleines Wegstück zu Fuß zu gehen. Seine Kanzlei befindet sich im neunten Stock eines Docks, das von einer renommierten Architektin umgebaut wurde. Er zieht die Treppe dem Aufzug vor. Die durchgehende Verglasung des Anbaus gibt den Blick auf den Betrieb im Hafen frei. Oben angelangt betritt er die lichtdurchfluteten Räumlichkeiten und bittet seine Sekretärin um einen Kaffee, bevor nun auch er den ersten Anruf entgegennimmt.
„Und wer ist dran?“
Der Mont Ventoux, das ist das Stichwort. Alle ihre Freunde kennen es und damit die Geschichte, die sich dahinter verbirgt. Es war Vorsehung glücklich gestimmter Götter, sagt Elena. Reiner Zufall, sagt Clemens. Darüber wird niemals Einigkeit bestehen.
Das Stichwort fällt, wenn sie Bekanntschaft schließen, näher rücken an einem Tisch, und zu späterer Stunde innigere Beziehungen geknüpft werden. Über den Mont Ventoux. Meistens ist es Elena, die ihm das Wort zuspielt. Und Clemens beginnt zu erzählen, wie sie sich heillos verfahren.
Sie übernachten nach einem Ausflug auf den heiligen Berg, den er nur am Rande erwähnt, in Sault, in der Auberge du Micocoulier, mitten in einem Olivenhain. Am folgenden Morgen stehen sie früh auf, sie wollen am späteren Nachmittag die Küste erreichen, die Nacht in Saint-Maxime oder Saint-Raphaël verbringen. Die Wirtin empfiehlt ihnen eine Strecke, die abseits vom Strom der Touristen durch das Hinterland führt, zwischen Manosque und Brignoles mitten durch die Hügelzüge. „Manosque“ und „Brigonles“, das müssen sie sich merken, der Umweg verspricht Sehenswürdigkeiten und unglaubliche Aussichten. Sie werden sehen, es lohnt sich.
In der Tat sie sind überwältigt, die Landschaft hat es in sich. Sie verlieren ihr Tagesziel mehr und mehr aus den Augen. Es ist sonnenklar, es ist eine Vorsehung. Elena wirft das Wort ein, in diesem Zusammenhang überzeugt es. Das vibrierende Licht wiegt sie in eine übermütige Stimmung, in der sie plötzlich zu allem bereit sind. Sie lassen sich sorglos zu Abstechern auf kurvenreichen Kleinstrassen