Der Sturm der Krieger. Paul D. Peters
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Gava Meduna und ihr Gefolge traten aus dem Tempel von Sonne und Wolf um den göttlichen Besucher in Empfang zu nehmen. Seit vielen Tagen hatte die Erzmatrone dieses Treffen vorbereitet, denn es ging nicht nur um das Urteil über den Gottschlächter, sondern auch um die Zukunft des Klans, der unbedingt wieder Führung und Einigung brauchte. Noch sollten die anderen trauern, noch sollten sie ihre Klauen in Warugs Körper rammen, aber die Erzmatrone und jene Rudelführer, die genau in dieser Situation klaren Kopf und Weisheit bewahren wollten, hatten sich bereits mehrfach zu Beratungen zusammengefunden.
Durch den Weltschatten hindurch hatten sich die Gavas und Madas der Schwesternschaft permanent Botschaften zugesandt. Die Raben hatte man gemäß ihrer Pflicht zu offiziellen Gesandten von Klage und Kunde ernannt, die die geflügelten Werkrieger bis in den letzten Winkel der Welt trugen. Geister und Knochen waren befragt worden, besondere Schutzzauber wurden über das Revier und den nun gottlosen Hort mit der Höhle Goronds gewoben. Darüber hinaus mussten die Grenzen des Waldes der Welt weiterhin bewacht, die einfallenden Skrael in den Hinterlanden bekämpft und andere Feinde diesseits und jenseits des Schleiers zur Strecke gebracht werden. Es musste weiterhin der Bund mit den freien Marken der Kelltonen im Norden des Reviers aufrecht erhalten werden. Es mussten Pflichten erfüllt und Funktionen ausgeübt werden und kein Sterblicher im Alten Glauben durfte vorerst vom Tod ihres Gottes Gorond erfahren.
All dies und mehr musste nun die Erzmatrone von Angesicht zu Angesicht mit dem Vater der Keiler besprechen. Und er wollte den Gottschlächter sehen. Am allerwichtigsten wären aber die Vorbereitungen für ein Ereignis, wie es zuletzt vor zweihundert Jahren zur Zeit der Brennenden Hetze geschehen war. Ein großes und heiliges Ereignis, wie es die Welt nur sehr selten zu sehen bekam. Ein Ereignis, bei dem alles Schicksal entschieden werden würde.
Kapitel 2: AM BAUM DER ANKLAGE
Es war Nacht und eigentlich hätte es mit dem verschneiten Himmel dunkler sein müssen, aber allein die Schatten waren schwarz, alles andere zeigte sich mit der Klarheit von tiefem Blau. Es war recht still, denn der Chor in Trauer war vor einer Weile verstummt und nur vereinzelt ertönte die Klage eines Wolfs.
Die Luft klirrte mit Kälte. Der Wind begann aufzubrausen und trug ein lautes Stampfen im Schnee herbei. Ein brummendes Atmen von einem gewaltigen Tier, ein Grunzen von einem großen Rüssel. In der Richtung, in der sich das uralte Wesen bewegte, neigten sich fast unmerklich die Bäume zur Seite, an dünneren Stellen schmolz es und der Boden wurde frei. Wild und Kleintiere wurden wach, zeigten sich aufgeregt, selbst Vögel stimmten wie zum plötzlichen Morgen zum Gesang an. Kleine, blasse Baumgeister, die entfernt an menschliche Föten erinnerten, erschienen, erwarteten in den Kronen und am Boden die Ankunft eines Gottes. Schneeflocken fielen etwas langsamer herab, bremsten weiter im Fall zum Boden hin, bis sie beinahe starr verweilten um erst dann ins Weiß einzugehen. Tatsächlich wurde es sogar noch heller auf der Lichtung vor den Bäumen der Anklage.
Warug hob unter Stöhnen den Kopf. Er spürte eine Woge der Macht, die ein wenig seinen Schmerz linderte, seine geistige Taubheit und sogar seine Trauer etwas vertrieb. Für einen Augenblick konnte er klarer denn je sehen: ein Keiler von enormer Größe kam aus dem Wald heraus. Er hatte ihn bereits früher schon gesehen, den Wilden Gott Toruskorr, den donnernden Herrn des Ostens. Hörner krönten sein Haupt. Hauer im Maul, Hufe an stämmigen Läufen. Mit Muskeln berstend war sein massiver Leib. Grau und Weiß das kurze Fell. Dunkel glänzend der Kamm besonders langer Borsten entlang von Haupt und Rücken. Die Augen glühten kurz mit Rot auf. Worin sich sonst alle Ruhe, alle Macht der Welt zeigte, war es für einen Moment allein ein tiefer Zorn, der nur Warug gelten konnte. Der halbtote Werwolf wollte mit irgendeiner Geste dem Gott vor ihm Respekt erweisen, aber er konnte bloß röchelnd seinen Kopf anheben, ehe dieser wieder unter gänzlicher Aufgabe des Fleisches zur Brust sank.
Erde und Wald zitterten, als der Große Vater Keiler schließlich vor dem mit Blut verkrusteten Baum der Anklage stehen blieb, seinen Schädel hob und roch, roch am angenagelten Frevler vor ihm, roch in dessen Seele. Gefrorener Atem wie Dampfstrahlen aus seinem Maul, aus den Nüstern. Bald schon ließ er ab, dann grunzte er erneut, aber nicht im Zorn, sondern in beinahe resignierender Erkenntnis.
Nun trat Gava Meduna hinter dem Wilden Gott hervor. Sie schien die einzige Begleiterin. In einen dichten Fellmantel mit Kapuze war sie gehüllt, ihren gewundenen Stab hatte sie natürlich bei sich. Ihr Blick auf den Gottschlächter war sehr streng und ermattet zugleich. Die langen Nächte von Zusammenkünften, Beratungen und auch der Trauer zehrten bereits an ihrer Substanz.
Toruskorr schien länger im inneren Geist verweilend. Für eine Zeit war auf der Lichtung nur sein lautes Atmen und der Wind zu hören. Der Große Vater Keiler dachte nach, vielleicht rief er auch hinaus, hinaus in die höheren Sphären mit seiner göttlichen, stummen Stimme, so vermutete Gava Meduna. Er sollte eine Antwort bekommen, die allein ihm gebührte und die allein er ertragen konnte.
Er erhob erneut sein heiliges Haupt, grunzte und sprach sodann mit endlos tiefem, dröhnenden Ton.
„Er soll leben. So ist entschieden.“
Zuerst glaubte Warug ihn nicht zu verstehen, aber dann erfasste er die volle Bedeutung der göttlichen Worte. Es sollte also wieder nicht der Tod, sondern das Leben sein. Er würde also nicht am Baum der Anklage sein Ende finden.
Die Erzmatrone wagte nach gebührender Andacht eine Nachfrage: „Oh Großer Vater Toruskorr, ich akzeptiere euer heiliges Gebot. Doch wie genau soll weiter mit ihm verfahren werden?“
Langsam neigte der Wilde Gott den Schädel zur Seite. Sein Blick traf den ihren. Soviel Ehrfurcht er auch immer gebieten mochte, einen gewissen sanften Respekt hatte er stets für die Schwesternschaft übrig, vor allem für eine solch verdienstvolle Matrone, wie es Meduna schon immer gewesen war.
„Zunächst soll er noch leiden.“ Mit nur angedeuteten Bewegungen von Maul und Mund ertönte das Wort aus der Tiefe seiner Kehle. „Lasst ihn hängen, lasst ihn bluten, bis zum Abend des Zwölften. Bettet ihn zur Heilung. In alter Sprache die Wunde des Vaters auf seinen Rücken, auf dass er immer seinen Namen spüre, bis zu seinem Ende. Dann seht zu, dass er wieder stehen kann und dass ihn niemand bis dorthin tragen muss, wo ihn alle sehen werden. Er soll sein Urteil aufrecht erhören. Tut wie euch geheißen, höchste Matrone der Allmutter.“
Die Angesprochene nickte, fragte noch weiter: „Oh Großer Vater Torruskorr, ihr habt doch gewiss seine Seele erkannt? Sehr ihr Verderbnis, die mir verborgen ist oder seht ihr es, was prophezeit wurde? Ist er ein Auserwählter?“
Der grauweiße Keiler, der die Erzmatrone bei weitem überragte und direkt ins Gesicht des hoch hängenden Werwolfs blicken konnte, grunzte in seltsamer Tonlage. Es klang beinahe wie ein Seufzen.
Erst nach einer Weile gab er zur Antwort: „Der Eine Feind windet sich nicht in ihm, dies seid gewiss. Und er hat bereits eine Prophezeiung erfüllt. Er ist es.“
Der große Wildschweinschädel nickte. Die Matrone neigte tief ihr Haupt und blickte sodann auf den Gekreuzigten.
Toruskorr wandte sich Warug zu und dröhnte: „Doch welcher dieser da es zur Dämmerung der Letzten Schlacht sein wird, sollt ihr jetzt noch nicht wissen. Verkündet es noch nicht, denn dies soll später geschehen. Nennt ihn vorerst so, wie ihr ihn alle nennt. Warug Gottschlächter, der du einst der Geächtete