HimbeerToni. Joachim Seidel
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Noch mal verdammt. Es ist fünf nach zwölf.
3. Herr Blümchen, die Achtziger und eine Fata Morgana
Train kept a-rollin’ – Motörhead
Ich trinke mein Bier aus, nehme einen Stapel meiner literarischen Ergüsse aus dem Drucker, verstaue sie in meinem Eastpak-Rucksack und mache mich auf den Weg zum Bahnhof. Ich beschließe, weder Herrn Blümchen noch sonst jemandem von meiner Vaterschaft zu erzählen. Mann, wir machen dieses Wochenende Party. Angehender Vater kann ich danach noch lang genug sein.
Im Metrobus muss ich daran denken, wie alles begann: Holgi und Kurtchen waren längst von Hamburg nach Berlin gezogen, als Herr Blümchen und ich aus der Provinz in die Mauerstadt aufbrachen. Wir hatten schon als Teenager zusammen mit Papa Punk in unserem Kaff zusammen in einer Band gemuckt. Dann bekam Herr Blümchen seinen Einberufungsbescheid, wollte die nächsten zwei Jahre aber lieber in Berlin Schlagzeug spielen als zur Bundeswehr. Ich wurde zum Glück ausgemustert, schnappte mir meinen Basskoffer und ging mit.
Bevor wir auf Holgi und Kurtchen trafen, entsprach unser Dasein inhaltlich am ehesten dem Schriftzug auf einem verwitterten Emailschild an einer Westberliner Fabrikhalle, das Herr Blümchen und ich kurz nach unserer Ankunft an einem bitterkalten Januartag Anfang der Achtzigerjahre im tiefsten Kreuzberg entdeckt hatten. Wir, die zwei frisch zugezogenen Wessis, hatten tags zuvor auf dem Flohmarkt am Reichpietschufer abgewetzte Anarcho-Lederjacken erworben, so, wie es sich für zugereiste Neuberliner gehörte. Nun verharrten wir andächtig, zähneklappernd in unseren schwarzweiß gestreiften Spandexhosen mit signalfarbenen Stulpen über den Waden, denn dort auf dem Fabrikschild stand geschrieben:
Wir stellen ein:
Und darunter:
die Produktion
Das entsprach genau unserem Lebensgefühl.
Und heute? Trage ich weder Spandexhosen noch neongelbe Stulpen. Berlin ist längst keine Frontstadt mehr, aber im Winter so deprimierend wie eh und je.
Am Bahnhof angekommen, klingle ich nochmals bei unserem ›lost Gitarrero‹ Kurtchen durch. Seit über zwei Wochen schon ist er wie vom Erdboden verschluckt. Im Kino meinte eine Kollegin, Kurtchen habe kurzfristig Urlaub genommen. Aber ob und wohin er verreist ist? Elsbeth, Kurtchens Ex, will ich deswegen nicht behelligen. So besorgt bin ich dann auch wieder nicht. Kurt ist weiterhin nicht zu erreichen.
Herrn Blümchen erkenne ich schon von Weitem an seiner US-Marines-Brikettfrisur. Er kommt den Bahnsteig entlanggehumpelt, bleibt stehen und krümmt urplötzlich den Oberkörper nach vorn. Müde sieht er aus und fett. Wahrscheinlich hat Herr Blümchen wieder mal versucht, mit dem Rauchen aufzuhören. Er schwitzt und keucht vor Anstrengung, sein Kopf ist puterrot. Hundert Kilo Lebendgewicht muss man eben erst einmal bewegen können. Mein Freund steht nach wie vor geknickt neben sich und einem Koffer mit Rädern unten dran. Er starrt auf die Gleise. Ich fahre mit der Rolltreppe runter zu Gleis 13/14 und bleibe direkt hinter ihm stehen.
»Blümchen, Blümchen an der Wand…«
Herr Blümchen wendet sich um.
»…wer hat den größten im ganzen Land!«, sagt er, ohne eine Miene zu verziehen.
Wir nehmen uns in die Arme. Herr Blümchen zieht mich näher an sich heran und umarmt mich nach Kräften. Eigenartigerweise tut mir plötzlich der Schwanz weh.
Auf mein »Herr Blümchen, an diesem Wochenende liegt Punkrock in der Luft« reagiert der beste Freund halbherzig. Er schaut auf seine Uhr und sagt: »Ich brauch dringend ’ne Mütze Schlaf. Sonst wird das nix mit Pogo.«
»Und du willst Punk sein?«
»Fünfundzwanzig Jahre Remo Smash! Das sollte eigentlich reichen. Was steht sonst an?«, will Herr Blümchen wissen.
»Na ja, heute erst Zigeunerpunk mit ’nem komplett durchgeknallten Stelzenläufer im Rahmenprogramm, der jetzt über mir wohnt, ist genau unsere Kragenweite, anschließend Poetry-Slam und Remo-Smash-Alarm auf ’em Kiez und morgen um vier Uhr Forget the Night – Fugazi live in der Fabrik.«
»Fugazi live? Alter. Ich muss Sonntag wieder um halb drei raus.«
»Alter. Die spielen nachmittags um vier.«
»Wie? Punkrock am helllichten Nachmittag? Und was machen die nachts?« Herr Blümchen gähnt genüsslich.
»Abends haben die was Besseres vor, als sich vor einer Horde ungelenk rumhopsender, grimassierender Altpunks zum Affen zu machen.«
»Ich mach alles mit. Hauptsache, ich muss nicht singen«, grummelt Herr Blümchen.
Gemächlich trotten wir in Richtung Ausgang Kirchenallee. Mein Gemächt schmerzt jetzt auch beim Gehen, und ich befürchte, dass es sich bei diesem Handicap um einen potenziellen Neueinsteiger in meine Problem-Charts handeln könnte. Währenddessen zieht Herr Blümchen sein kaputtes Bein weiter nach.
»Von der Leiter gefallen, nix Schlimmes«, sagt er und humpelt weiter.
»Na gut. Singen musst du bei mir nicht, backen und tanzen auch nicht!«
Seit der siebten Klasse wusste Herr Blümchen, dass er als Erwachsener die elterliche Backstube übernehmen würde und dass er zwar gerne Schlagzeug spielt, aber weder gerne singt noch tanzt. Einmal hatte Herr Blümchen in den Achtzigern öffentlich eine Art Veitstanz zu Love Like Blood von Killing Joke aufgeführt. Dabei hoppelte er wie ein gleichgewichtsgestörter Marabu auf Brautschau über die Tanzfläche im Stairway. Und in den späten Siebzigern habe ich ihn sogar mit eigenen Augen Pogo tanzen sehen und fasziniert gelauscht, wie er Fast Cars von den Buzzcocks mit seinem tiefen Bass stimmlich untermalte. Aber das ist lange her. Herr Blümchen ist musikalisch wie ein Stein, und er hat nie sonderlich darunter gelitten. Und weil er schon 1978 mein bester Freund war und seinerzeit der Punkrock regierte, hatte ich ihn damals als Erstes gefragt, ob er nicht Sänger bei unserer ersten Band Deflöration werden wollte, nachdem Papa Punk in den Sack gehauen hatte und ein paar Monate vor uns nach Berlin abgehauen war. Dann haben Kurtchen, Holgi, Herr Blümchen und ich zusammen Toilet Love aufgenommen – wir nannten uns Remo Smash, und auch Papa Punk war kurzzeitig wieder mit an Bord.
Wir treten aus dem Bahnhofsgebäude ins Freie. Wie immer, wenn ich ihn am Hauptbahnhof abhole, weist mich Herr Blümchen beim ersten Ansichtigwerden großflächig im Gesicht Tätowierter und anderweitig vom Leben oder von Menschenhand Gezeichneter darauf hin, wie froh er doch ist, nicht mehr in der großen Stadt, sondern in der tiefsten Provinz zu wohnen.
»Bäähh«, tönt es aus ihm heraus, und dabei wabbeln seine fleischigen Wangen zum Zeichen seiner Intoleranz wie die hängenden Sabberlefzen einer Riesendogge.
Schweigend gehen wir zur Bushaltestelle.