Ego - oder das Unglück, ein Mann auf dem Mars zu sein. Till Angersbrecht
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Was Borges in Marsopolis fand
Ego - oder das Unglück, ein Mann auf dem Mars zu sein
Till Angersbrecht
Es war als hätt die Himmelin
die Erde still geküsst,
dass sie in Blütenschimmerin
von ihr nun träumen müsst.
Die Luft ging durch die Feldinnen
Die Ähren wogten sacht.
Es rauschten leis die Wäldinnen,
so sternklar war die Nacht.
Ego: aus dem Nachlass einer großen Zivilisation
Als er sich im Jahr 27 nach MM (2072 n. Chr.) von der Zeitmaschine auf den Mars katapultieren ließ, konnte Borges nicht ahnen, was ihn dort erwartete: ein Trümmerfeld. Aber in halbverkohlten Aufzeichnungen stieß er auf die obigen Verse, anderen Rand er die folgende Bemerkung mit Ausrufezeichen schrieb: „Welch wundersame Überwindung des männlichen Prinzips!
Wie bekannt, hatte Borges, dieser große Dichter und emsige Kundschafter aus der Nationalbibliothek in Buenos Aires, die gesamte Vergangenheit des Menschengeschlechts vollständig in seinem Kopf gespeichert, kein Geheimnis dieser Welt war ihm fremd - was ihm fehlte, war die Kenntnis der Zukunft. Aus diesem Grund entschloss er sich, von der Maschine Gebrauch zu machen, die, von Wells vor mehr als einem Jahrhundert empfunden, erst in unserer technisch fortgeschrittenen Zeit, und zwar in einer unscheinbaren Garage des Silicon Valley, ihre letzte Vollendung erhielt. Dem Verfasser unsterblicher Werke gelang es tatsächlich, die rätselhaft untergegangene, äußerlich völlig zerstörte Zivilisation auf dem Mars zu erkunden. Die Chronik der geheimnisumwitterten Stadt Marsopolis mitsamt den oben zitierten Versen, die Borges durch ihre eigenwillige Form so sehr überraschten, verstaute er nebst anderen Objekten in seinem Koffer und hinterlegte auf seinem Rückweg, bei dem er zugleich die Barrieren von Raum und Zeit überwand, alles Gefundene im Londoner Britischen Museum. Unter dem Titel „Die Besiedelung des Mars” wird dieses außerordentliche Zeitdokument seitdem einem archäologisch und kulturhistorisch interessierten Publikum zur Einsicht geboten, wenn auch weitgehend unentziffert und auch nur als Faksimile. Ob Borges die außerordentliche Bedeutung dieser Chronik erkannte, weiß ich nicht – die Verse allerdings hat, wie der obige Eintrag bezeugt, ausdrücklich in ihrer historischen Bedeutung gelobt. Als profunder Kenner der menschlichen Geschichte war ihm bewusst, dass die untergegangene Zivilisation auf dem Mars eine Großtat vollbrachte, die bis dahin niemals gelungen war: die Überwindung des Mannes.
Allerdings ist die uns glücklicherweise erhaltene Chronik selbst das Werk eines Mannes, eines Außenseiters allerdings, der auf dem Mars einem verachteten Beruf oblag, nämlich dem eines Quotenmannes. Vielleicht aber haben wir ja gerade dem niederen Rang und dem Außenseitertum dieses Mannes das Glück zu verdanken, von der fortschrittlichsten Zivilisation des 21. Jahrhunderts eine so detailreiche und anschauliche Schilderung zu erhalten. Hier spricht einer, der unsäglich an sich selber litt und uns deswegen umso eindringlicher zeigt, wie eine vollkommene Welt und Gesellschaft eigentlich aussehen müsste. Ich glaube, dass niemand, der sich mit den Aufzeichnungen Egos über Marsopolis, die Stadt auf dem Mars, befasst, unberührt von dem Schicksal der dort lebenden Menschen bleibt und sich der Faszination ihres so vom unseren so radikal abweichenden Lebens zu entziehen vermag. Der Untergang dieser kurzlebigen Zivilisation gibt allerdings umso mehr Grund zur Nachdenklichkeit. Warum musste gerade eine Zivilisation untergehen, die der unsrigen in vieler Hinsicht so sehr überlegen war?
Waren es vielleicht die lockeren Sitten, war es die leider auch auf dem Mars nie wirklich überwundene Verlockung zur Sünde, die diesen Untergang herbeigeführt haben? Was Borges betrifft, so stand dieser jenseits aller Moral, er hätte sich von solchen Erwägungen in seinem Urteil nie beirren lassen, aber ich als der Herausgeber dieser Schrift, sehe es doch als meine Pflicht an, den Leser zu warnen. Er sollte auf jeden Fall volljährig und in seinen staatsbürgerlichen Ansichten ausreichend gefestigt sein, bevor er sich an die Lektüre der vorliegenden Chronik wagt. Vor allem, wenn er dem neuerdings doch recht empfindsamen männlichen Geschlecht angehört, mag ihn manches befremden, im schlimmsten Fall sogar ernstlich erschüttern.
Ansonsten habe ich nur noch hinzuzufügen, dass meine Aufgabe eigentlich nur die eines bescheidenen Handwerkers war, der sich auf sein graphologisches Geschick und seine Augen verlassen musste, denn der Zahn der Zeit und ein während der Zerstörung von Marsopolis ausgebrochenes Feuer haben den handschriftlichen Seiten arg zugesetzt. Es ging darum, die teilweise schwer lesbare und noch dazu rauchgeschwärzte Schrift des Quotenmannes fehlerfrei zu entziffern, damit dieses großartige Zeugnis einer Zivilisation, die für einige Jahre das leuchtende Zentrum des Universums war, jedem zugänglich sei.
Till Angersbrecht
Wie konnte das nur passieren?
Sein Name war Ego – schlicht und einfach Ego ohne jede Vor- oder Nachbezeichnung. Aber er war weder ein Egoist noch konnte er sich eines besonderen Ichgefühls rühmen, wie der Name ja eigentlich nahelegt. Im Gegenteil, sein Ich war kümmerlich unterentwickelt, denn in aller Selbstlosigkeit ging er voll und ganz im Dienst der Gemeinschaft auf. Glück brachte ihm dieser Dienst freilich nicht. Wenn man seit beinahe zwei Jahrzehnten in Marsopolis, der Stadt der Frauen, mit diesem Ding herumlaufen muss, dann liegt das Glück eher fern!
Dabei fehlte es Ego keinesfalls an professioneller Korrektheit. Immerhin war er dafür verantwortlich, den hochverehrten Bewohnerinnen der oberen Stadt ein wenig von jener Lust zu verschaffen, die ihnen offiziell ganz verboten ist und auf die dennoch so viele von ihnen – sagen wir ruhig, beinahe alle - nicht verzichten können und wollen, denn das Ideal völliger Entsagung von aller Sünde hat der Mensch eben nirgendwo verwirklicht - auch nicht in Marsopolis, dem bis heute fortschrittlichsten aller von Menschen bewohnten Ansiedlungen.
An diesem Tag, wo wir Ego zum ersten Mal begegnen, hatte ihn eine besonders unscheinbare Bewohnerin auf dem Gang zum ersten Obergeschoss angesprochen. Jede Frau weiß ja, welchen Diensten Ego in dieser Stadt obliegt. Nicht an seiner Kleidung erkennen sie es und schon gar nicht an einem äußerlich ungehörigen Betragen, nein, in dieser Hinsicht ist Ego ohne Fehl und Tadel. Sie erkennen es an dem etwas röteren, zweifellos der Schminke zu verdankenden Rot seiner Lippen.
Ja, und dann ist da noch die Frisur. Die Frauen in Marsopolis tragen sie zu kunstvollen Gebilden geschichtet, die sie mit Kämmen am Kopf fixieren, aber Ego und seinesgleichen, von denen es in der Oberstadt noch an die zweihundert gibt, lassen ihr Haar glatt auf die Schultern fallen – ihre geringe Stellung und Außenseitertum erkennt frau deshalb schon aus der Entfernung. Außerdem ist ihm ein Anflug von Dunkelheit zwischen Nase und Oberlippe geblieben, wofür er sich ganz besonders schämt. Trotz größter Bemühungen hat sich dieser Restbestand seiner ursprünglichen Natur nicht völlig beseitigen lassen. Jeden Morgen, wenn Ego sich im Spiegel erblickt und für den Tag herausputzt, blickt er mit tiefer Bekümmernis auf dieses unaustilgbare Brandmal einer geburtsbedingten Zweitrangigkeit.
Doch da er am heutigen Tag guter Dinge ist, wollen wir diesen Bericht nicht mit Jammerei beginnen, zumal wir uns auf dem Mars befinden, wo der Mensch seine erste, ganz und gar mangelhafte Natur