Die Gabe des Erben der Zeit. Georg Steinweh

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Die Gabe des Erben der Zeit - Georg Steinweh

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das meinte Fred, bei allem unsensiblen Verhalten, das Paul oft überfiel, das meinte Fred ehrlich. Seit immerhin acht Jahren konnte keine Untiefe die Freundschaft zwischen den Beiden gefährden. Paul war - außer seiner Kochleidenschaft - die mittlerweile größte Konstante in Freds Leben. Sogar die Motorradbastelei hatte er frühzeitig an den berühmten Nagel gehängt.

      "Machs gut, Paul. Bis bald."

      "Machs besser, Freddy. Aber nicht so oft.“ Pauls anzügliches Lachen ging schon nicht mehr durch die Leitung. Fred kannte es eh, wie Pauls Lieblingssprüche.

      Jetzt saß er also in der Klemme, konnte sich nicht mehr einfach raus winden aus dieser Heimatgeschichte, von wegen ‚ich muss mein Lokal weiterführen’ und so. Der Weg war frei, fragte sich nur, wohin. Freds unsteter Blick fiel auf die klamme „ZEIT", wieder las er "...ist relativ".

      Und macht nur vor dem Teufel halt. Hat auch schon mal jemand gesungen. Er lächelte. Das stand ihm besonders gut. Darüber war sich der Schwarm Fische einig, der seit geraumer Zeit aufmerksam das Boot begleitete.

      Anker setzen war sinnlos, der See hier viel zu tief. Ein bisschen Detailwissen hatte sich Fred mittlerweile also angeeignet. Flüchtig blätterte er den „Boten“ durch, ließ sich treiben, von der Strömung, von der spontanen Neugier, welche Zeilen und Bildunterschriften ihn wohl interessieren könnten. Er überflog nichts Aufregendes: die nächste Segelregatta wurde angekündigt, deren Organisationskomitee noch Helfer suchte, die Schweizer Einkaufspendler wurden kritisiert, die von der Butter bis zu Immobilienpreisen alles verteuerten, der Gemeinderat war darüber zerstritten, in welchem Umfang Konstanz das Konzilsjubiläum ausrichten sollte.

      Interessant, nein, amüsant. Die Fraktion um Clemens Wackernagel bevorzugte die ganz große Lösung: vier Jahre Marktstände im Seepark, historisch fundiert, ein Frachtschiff im Hafen, natürlich originalgetreu, alle halbe Jahre eine Prozession, farbenprächtig und prunkvoll wie damals. Tausende Touristen sollten sich angezogen fühlen wie einst um 1414 die Tagelöhner, Adelige und Dirnen, die unaufhörlich in die Stadt drängten. Auf die Dirnen wollte Wackernagel diesmal gerne verzichten.

      Herta Brot unterstellte Wackernagel nebst Gefolge Großmannsgebahren und fehlende Einsicht in die finanzielle Realität. Wollte sich die Stadt in den kommenden Jahren nicht ruinieren, war es völlig ausreichend und angemessen, zum Jubiläumsbeginn der Stadt sechs Wochen ein historisches Gewand überzustülpen. Ein üppiges Zeitfenster für Touristen, um an einem lebendigen Bild des spätmittelalterlichen Konstanz teilhaben zu können. Die Sache mit den Prozessionen könne man ja noch in Erwägung ziehen, aber wenn, dann nur jährlich.

      Fred fragte sich, wie die Stadtväter und auch die -mütter so ein Jubiläum überhaupt organisieren wollten. Da waren die Querelen um Geld, Umfang und Historientreue fast nebensächlich. Der normale Konstanzer wollte und musste seinen Alltag bewältigen, war doch kein Komparse für japanische Fotoshootings.

       Lächerlich. Soll wohl jeder Zweite im Sack rumlaufen und der glückliche Rest in Plusterhosen und Samtjacke?

      Fred hatte keine Ahnung von mittelalterlicher Mode und keine Lust, auf die Annehmlichkeiten des 21. Jahrhunderts zu verzichten, geschweige denn von historientümelnden Menschenmassen umgeben zu sein. Da blieb er lieber hier in seiner Oase. Der See wäre dann sicher auch kein gesicherter Rückzugsort mehr.

      Freds Nachen trieb zum Schweizer Ufer. Er nahm es als Fügung, wollte hier irgendwo ein Ufercafé aufsuchen, die „Zeit“ lesen. Kurz bevor er in Steckborn an einer geeigneten Anlegestelle sein flaches Fischerboot festmachen konnte, fiel ihm auf der Uferstraße ein rotes Cabrio auf. Nicht viel davon, der Winkel hoch zum Uferkai machte nur die obere Hälfe sichtbar. Aber die Frau, die drinsaß, sah er dafür umso besser. Blond, schön, irgendwie dynamisch. Ganz sein Geschmack.

      Hatten ihm die wehenden Haare gewunken? Eine Sekunde später war sie vorbei.

      Diese erste Begegnung zwischen Renie und Fred.

      Nein. Die Zweite.

       Sonntagmittag

      

      Louis Armstrong fragte mit kratziger Stimme, ob es denn möglich sei, ohne „sie“ so angeturnt sein zu können, wie andere von „Champagne“, oder „Cocaine“. Das Klavier erzählte von einer swingenden Bar, einzelne Akkorde baten zärtlich zum Tanz nach dem zweiten Drink. Louis blickte lächelnd von den Tasten auf, strahlte Renie aus den Augenwinkeln an. Renies Hände tätschelten den Takt ins Lenkrad, sie liebte es, wenn sich ihrer Phantasie immer wieder die gleichen Bilder anboten. Irgendwie zuhause. Immer den gleichen Kuchen, die gleichen ersten Sätze zwischen Vater und Mutter, Neugier, „an welchem Objekt arbeitest du grade?“

      Und kaum lief ihre Lieblings-CD, schnurrte der Mustang wie am Faden gezogen über die Straßen, tauchte Louis Armstrong vor ihr auf, nein, sie stand in der schummrigen Bar neben seinem Stutzflügel und klopfte mit den Fingern den Takt ins glänzende Holz.

      Eindeutig der richtige Moment festzustellen, was für ein wirklich gelungenes Wochenende hinter ihr lag.

      Die anderthalb Tage mit Marc zeichneten sich nicht gerade durch lange Schlafenszeiten aus - obwohl sie die Zeit hauptsächlich im Bett verbrachten. Meistens fielen sie gierig übereinander her, verloren keine Zeit mit unnötigem Blabla. Ein sauberes ungekünsteltes erotisches Verhältnis also.

      „I get a kick out of you!“

      Die letzte Zeile verklang, Anita O´Day setzte den Cole-Porter-Reigen fort. Renie glitt mit ihrem Mustang die Untersee-Uferstraße entlang. Nach Sankt Gallen hätte sie zwar auch die A1 nehmen können, aber „der Tag ist jung und schön, so wie ich“ - und schon schmunzelte sie über die eher männertypische Floskel. Die Sprache der Männer, die war ihr vertraut. Deren Gedanken und Wünsche ebenso. Manchmal kam frau eben besser ans Ziel, wenn ein kleiner Umweg in Betracht gezogen wurde. Der Mustang röchelte gerne gemütlich die Uferstraße entlang, er sog eben viel lieber die frische Seeluft in seine Vergaser. Von Fischingen über Frauenfeld nach Steckborn war es nicht gerade eine Weltreise.

      Mit diesem Chef hatte sie das große Los gezogen und sie beabsichtigte nicht, sich diese Eroberung von irgendeiner aufstrebenden Newcomerin streitig machen zu lassen. Geschweige denn zu teilen.

      Außer mit Marcs Frau und den zwei Kindern. Notgedrungen. Marc Lüti schien jedenfalls gelassen mit seiner Zweigleisigkeit umzugehen.

      „Alles Routine“ antwortete er gestern Abend wie aus der Pistole geschossen, als Renie ihn darauf ansprach, wie er sich so problemlos regelmäßig in seine Berghütte absetzen könne. Schnell schob er noch ein versucht spitzbübisches Grinsen hinterher. Renie zuckte nicht zusammen. Illusion war nicht das Band, das sie zusammenhielt. Jammern auf hohem Niveau, das überließ sie den reichen Geizfamilien aus Deutschland, denen - interessanterweise mehr als den Schweizern - partout ein Seegrundstück in ihrer Vita fehlte, „...hatte sich mein Studienkollege doch kürzlich ein schlichtes Badehäuschen mit Seeblick erworben“. „Wir brauchen einfach einen kleinen Fluchtpunkt, verstehen Sie. Mein Mann hat ja soviel um die Ohren. Sie wissen, was ich meine?“

      Ja, sie wusste. Ein Pfropf für Frau und Kind, Stein gewordenes Valium, Stillhalten mit Aussicht. Bis der viel beschäftigte Gatte nach den Wochenendbesprechungen oder Auslandstagungen mit Sekretärin in den gesellschaftsfähigen Schoß der Familie zurückfand.

      Sie klagte diesen Geldklüngel mit seinen familiären Arrangements überhaupt nicht an. Erstens verdiente sie daran und zwar durchaus ausgezeichnet. Und zweitens? Naja, es gab einen nicht zu leugnenden Zusammenhang:

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