Anele - Der Winter ist kalt in Afrika. Marian Liebknecht

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war er nie ein Typ gewesen, der dazu tendiert, ernsthaft über sein Leben nachzudenken. Es war auch nicht seine Sache, Entscheidungen zu treffen, sie wurden üblicherweise für ihn getroffen und er nahm zähneknirschend zur Kenntnis, was das Leben für ihn bereit gehalten hatte. Anders ausgedrückt könnte man sagen, er ließ sich treiben.

      Erst in den letzten Wochen gab es immer wieder diese Krisen, diese verwunschenen Stunden der einsamen Gedankenwirbel, denen letztlich nichts anderes zu Grunde lag als der Wunsch, sein Leben endlich selbst in die Hand zu nehmen.

      An diesem Morgen blieb er länger als gewöhnlich unter der Dusche. Der behagliche Schwall heißen Wassers, der seinen die Wärme des Bettes noch vermissenden Körper hinunter lief, schien ihn nicht freigeben zu wollen. Schließlich überwand er aber den Widerstand und stieg heraus auf den kalten Fliesenboden des Badezimmers.

      Zehn Minuten später verließ er in seiner Berufskleidung – Anzug, Krawatte und darüber ein Übergangsmantel – das Haus. Sobald er ins Freie trat, schlug ihm eine Kälte entgegen, mit der er zu dieser Jahreszeit noch nicht gerechnet hatte. Es war einer jener Herbsttage in Wien, an denen das Wetter einen starken Schub Richtung Winter macht und mit unerwartet frostigen Temperaturen aufwartet. Philipp atmete tief durch und genoss es, die Luft wie prickelndes Eis im Rachen und in der Lunge zu spüren, raffte aber im selben Augenblick seinen Mantel enger zusammen, da er am Körper fror.

      Wie an jedem Arbeitstag schritt er zweihundert Meter die Straße entlang zur Frühbar an der Ecke. Beim Eintreten genoss er die behagliche Wärme, die ihm entgegen wallte und bestellte sich Kaffee und ein Sandwich. Während des Frühstücks ließ er seinen gestrigen Arbeitstag Revue passieren. Sein Chef hatte ihm angekündigt, heute früh mit ihm etwas besprechen zu wollen, was an sich nichts Ungewöhnliches war, allein die Art, wie er es gesagt hatte, hatte in Philipp Vorahnungen geweckt, von denen er nicht wusste, ob er sie ernst nehmen oder zum Teufel jagen sollte. In jedem Fall hätte er die Unterredung lieber schon hinter sich gehabt.

      Philipp arbeitete in seinem Job als Kreditreferent einer Bank mitten in Wien schon mehr als fünfzehn Jahre. Er prüfte die Bonität der Kreditwerber und genehmigte Kredite entweder selbst oder holte sich in Zweifelsfällen die Genehmigung seines Chefs. Der hielt sich bei seiner Entscheidung praktisch immer an das, was Philipp ihm riet. Durch die vielen Jahre, die er nach anfänglichen kleinen Karrieresprüngen nun schon dieselbe Arbeit machte, war eine Routine in ihm gewachsen, die die Arbeit zwar erleichterte, aber auch dazu führte, dass er keinerlei Herausforderung mehr darin sah. Bei normalem Fortgang der Ereignisse hatte er auch punkto Karriere kaum mehr etwas zu erwarten.

      Zu allem Überfluss kursierten in der Bank Gerüchte über bevorstehende Rationalisierungsmaßnahmen, der Hauptgrund für das Magendrücken, das die heutige Besprechung in ihm hervorrief, aber auch eine der Ursachen für seine allgemein gedämpfte Laune.

      Er aß den letzten Bissen seines Sandwiches, zahlte und ging wieder hinaus auf die Straße. Es war noch immer ziemlich kalt, der Atem dampfte, aber durch den Hochnebel, der sich im Herbst oft tagelang wie eine Decke über der Stadt ausbreitete, lugte da und dort bereits ein Stück blauer Himmel, was zumindest für heute Einiges an Sonne erwarten ließ.

      Im Tageslicht, das langsam die Dunkelheit der Nacht verdrängte, sah man die Häuser mit ihren historischen Fassaden, die der Straße, in der Philipp lebte, den so typischen altösterreichischen Charme verlieh. Von der etwa dreihundert Meter entfernten Haltestelle brachte ihn die Straßenbahn zu seiner Bank in der Innenstadt. Obwohl die U-Bahn schneller war, liebte er es, in diesen alten, polternden Waggons zu sitzen, die in Wien noch immer eingesetzt wurden.

      In der Arbeit angekommen, bedachte er seinen Zimmerkollegen mit einem kaum wahrnehmbaren Handzeichen, das dieser aus Erfahrung als Morgengruß interpretierte. Gleichzeitig entledigte er sich seines Mantels, schaltete den Computer ein und ging zum Kaffeeautomaten, wo er sich einen Cappuccino herunterließ.

      Zurück am Arbeitsplatz hatte Thomas – so hieß sein Gegenüber – bereits eine Nachricht für ihn.

      „Frau Ziegler hat angerufen. Der Chef wartet schon seit einer halben Stunde auf dich. Ich würd’ mir an deiner Stelle nicht mehr allzu viel Zeit lassen“, sagte er.

      Philipp wunderte sich über diese seltsame Eile schon am frühen Morgen.

      „Was ist denn los? Heute können sie es wohl kaum erwarten. Kann man nicht einmal seinen Kaffee in Ruhe trinken?“ Er nahm einen Schluck aus dem Pappbecher, schnappte sich einen Block samt Kugelschreiber und machte sich damit auf den Weg zu seinem Chef.

      Im Vorzimmer erwartete ihn bereits Frau Ziegler, die Chefsekretärin.

      „Na, schon da?“ sagte sie schnippisch, meinte es aber nicht ganz ernst.

      „Wie ist er denn aufgelegt? Mir scheint, heute drehen ja alle durch.“ entgegnete Philipp.

      „Irgend was ist im Busch. Keiner erzählt was, aber ich bin ja nicht blind. Übrigens, Sie werden ein bisschen warten müssen, unser Oberster ist gerade reingestürmt und es hat nicht so ausgesehen, als ob es in zwei Minuten erledigt wäre“, antwortete Frau Ziegler.

      „Na, dann kann ich ja wieder gehen“, bemerkte Philipp.

      „Das würd' ich mir allerdings noch mal überlegen. In der Früh, als Sie noch nicht da waren, wäre er beinahe explodiert, hat dauernd gefaselt, warum man eigentlich Termine vereinbart.“

      „Aber er weiß doch, wann ich in der Früh komme“, sagte Philipp, nicht im Traum daran denkend, sich zu rechtfertigen, „Haben Sie wenigstens Kaffee? Ich hab’ nicht einmal die Zeit gehabt, meinen zu trinken, so eilig haben’s heute alle.“

      „Ich werd‘ schauen, was sich machen läßt.“ Frau Ziegler verschwand Richtung Kaffeeküche und kehrte nach zwei Minuten zurück, ein Tablett mit Filterkaffee, einem Beutel Zucker und einem Kännchen Milch in den Händen. Philipp bedankte sich, schüttete Zucker und Milch in den Kaffee und nahm einen Schluck.

      „Ist was Wahres an dem Gerücht, dass die bei uns mit der Heckenschere reinfahren wollen, ein paar Abteilungen einsparen oder so?“, fragte er.

      „Und Sie glauben, wenn’s so wäre, wüsste ich’s?“ erwiderte Frau Ziegler, bei der man allerdings nie ganz sicher sein konnte, ob sie nicht mit etwas hinter dem Berg hielt.

      „Na, als Sekretärin bekommt man ja so einiges mit“, bemerkte Philipp im Versuch, vielleicht doch etwas heraus zu bekommen.

      „... und lebt davon, dass sich der Chef in jeder Hinsicht auf einen verlassen kann, besonders, was Verschwiegenheit betrifft.“ Frau Ziegler ließ sich heute auf nichts ein.

      Im nächsten Moment ging die Tür auf und der Generaldirektor verließ schnellen Schrittes die Abteilung, nachdem er sich bei Frau Ziegler auf seine gezwungen freundliche Art verabschiedet hatte.

      „Ist ein echter Gentleman, unser Oberster“ schwärmte sie, seine berufsmäßige Freundlichkeit für bare Münze nehmend.

      Sein Chef, Erich Hoffmann, sah aus der Tür und rief: „Ist er schon da?“

      Frau Ziegler nickte nur kurz und blickte zu Philipp, worauf er von Erich wahrgenommen wurde.

      „Guten Morgen, Philipp, komm rein. Frau Ziegler, können wir zwei Kaffee haben, bitte, ... du trinkst doch Kaffee.“

      Erichs gute Laune und sein entschlossenes Auftreten wirkten ebenso aufgesetzt wie das Benehmen des Generaldirektors. Philipp wusste, wenn er sich so gab, dann hatte es mit dem obersten Chef wieder einmal

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