Die Regeln der Gewalt. Peter Schmidt

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Die Regeln der Gewalt - Peter Schmidt

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Bräunliches Wasser lief manchmal an den Wänden herab und versickerte im Boden.

      Die Eisentür am Ende hatte nur eine Klinke auf der Innenseite. Ihre Schlossöffnung war zugeschweißt. Es bedeutete, dass sie keinen unliebsamen Besuch bekommen würden.

      Der Bunkerraum selbst maß kaum zwei mal drei Meter, seine Außentür fehlte; irgendjemand musste vor langer Zeit in ihm Schutz gesucht haben, denn in der Mitte war eine Feuerstelle mit niedergebranntem Holz.

      Es gab die üblichen Schmierereien an den Betonwänden. «Ilse & Friedrich – 1948»; «Hanna in ewiger Treue, zum 17. Geburtstag 1951»; über den offenen Türdurchgang hatte jemand mit grellroter Lackfarbe gepinselt: «CDU – Ratten und Schmeißfliegen. Ein Sozialist.»

      Der Bunker stand am Hang über dem Bachufer, eingerahmt von schwarzen Baumstämmen, und an der einen Seite der Betonwand rankte sich wilder Wein hoch. Werders ging zum Bach und dann über den wackligen Holzsteg.

      Das Haus war nicht mehr zu sehen. Irgendwo jenseits des Waldes musste die Straße verlaufen.

      Er arbeitete sich langsam durch das weglose Unterholz vor, zwischen Kriechweiden und Weißdornsträuchern, die bald in hohe, vertrocknete Farne übergingen. Dann war der Boden nur noch laubbedeckt und er sah die Landstraße vor sich zwischen den Stämmen.

      Als er nahe genug heran war, erstarrte er:

      Unter dem Regendach der Bushaltestelle stand Paul Walter. Er las vorgebeugt die Tafel der Abfahrtzeiten …

      Werders hastete zum Haus zurück. Es mochte nichts zu bedeuten haben. Aber seine Vorsicht sagte ihm, dass man der Sache besser nachging. Von einem Ausflug Walters in die Stadt war keine Rede gewesen.

      Wenn er sich recht erinnerte, schlief er nach eigener Auskunft jetzt oben in seinem Zimmer. Werders nahm das Moped aus dem Schuppen. Es hatte Veras Tante gehört und besaß einen metallenen Einkaufskorb am Lenker.

      7

      Als der Bus das Stadtgebiet erreichte, wagte er sich mit dem Moped näher heran; der Motor spuckte und setzte manchmal aus, und er musste den Gasgriff bis zum Anschlag drehen, um ihn nicht zu verlieren.

      Walter saß in der Reihe schräg rechts hinter dem Fahrer; ein geringes Risiko also, dass er ihn hinter sich entdeckte.

      Nur wenn der Bus an den Vorortshaltestellen stoppte, blieb Werders etwas zurück. Die Hände schmerzten von der ungewohnten Haltung, und seine Hosenbeine waren durch verschmutzt.

      Erleichtert stellte er das Moped am Fahrradständer einer Parfümerie- und Fotohandlung ab, als er Walter aussteigen sah, und beschloss, auf jeden Fall mit dem Bus zurückzukehren. Seine Beine zitterten vor Anstrengung und fühlten sich taub an.

      Es schien, als schlendere Walter planlos durch die Stadt, als wisse er selbst nicht, wohin er wolle. Werders hatte Mühe, ihn im dichten Gedränge der Fußgängerzone nicht aus den Augen zu verlieren.

      Er kannte die Stadt ziemlich gut von früheren Aufenthalten. Etwas später war er sicher: Walter spielte ein Spiel, das man ihm sorgfältig eingeschärft haben musste – wie einem dressierten Schäferhund, der immer und unter allen Umständen tun würde, wozu er abgerichtet war – selbst wenn es keinen vernünftigen Anlass dazu gab. Denn er versuchte offenbar, einen für ihn gar nicht vorhandenen Verfolger abzuhängen. Einfach, weil sein Verhaltenskodex es so vorsah.

      Werders war sicher, noch nicht von ihm entdeckt worden zu sein. Jemand, der sich verfolgt sah, bewegte sich anders …

      Das monatelange Versteckspiel hatte seine Sinne geschärft und ließ ihn Gesten und Gebärden deuten, die für andere gar nicht existierten.

      Walter durchquerte Einkaufspassagen, verließ einen Supermarkt auf der Rückseite, lief zwei- oder dreimal über dieselbe Straße (wobei Werder von vornherein darauf verzichtete, die Seitenwechsel mitzumachen, bis er sicher war, dass der andere drüben blieb) und trank endlos lange an zwei Tassen Kaffee in einem Stehausschank.

      Irgendeine professionelle Organisation, dachte Werders …

      Aber wozu der Aufwand, falls es das BKA war? Ein Anruf hätte genügt. Hubschrauber, Wagenkolonnen, Umzingelung des Grundstücks … oder wartete er Charlottes und Lenas Ankunft ab?

      Wollten sie alle auf einen Schlag? Der unterirdische Gang musste ihm dann ein amüsiertes Lächeln abnötigen.

      Es würde ihnen ein besonderer Genuss sein, sie dort in Empfang zu nehmen. Endlich schien Walter seine Vorsichtsmaßnahmen aufzugeben – er hatte sein Programm «absolviert» – und ging plötzlich in normalem Tempo eine baumbestandene Seitenstraße hinunter, die bereits wieder zu den Randbezirken führte.

      Ihre Häuser waren alt, aber villenartig aufgeputzte Fassaden aus der Zeit um die Jahrhundertwende –, und sie besaßen ausnahmslos gepflegte Vorgärten. Zahnärzte, Rechtsanwälte, Steuerberater, Zweigbüros kleinerer Firmen hatten sich hier einquartiert.

      Der Rehpinscher einer dicklichen Dame im Pelz pinkelte an ein frisch gesetztes Bäumchen. Feuchter Wind wehte die Straße entlang, und das Tier zog fröstelnd an der Leine zum Hauseingang gegenüber, nachdem es sein Geschäft verrichtet hatte.

      Werders beobachtete Walter, der die Eingangstreppe eines zweistöckigen Altbaus mit großen Bürofenstern betrat. Wenige Augenblicke nach dem Läuten war er hinter der Tür verschwunden.

      Werders las das Firmenschild:

      OLCO – Osthandelsgesellschaft Leipzig, Zweigstelle.

      Das genügte. Er ging rasch weiter, sein Gesicht von den Fenstern abgewandt. MfS oder KGB. Wahrscheinlich beide. Sie hatten einen Spitzel des Ministeriums für Staatssicherheit, Ost-Berlin, in der Gruppe.

       Aber wozu?

      Er betrat die Telefonzelle ein Stück weiter unten an der Straßenkreuzung, suchte den Namen der Firma im Telefonbuch und wählte ihre Nummer.

      Eine Frauenstimme meldete sich.

      «Ja?»

      «Bin ich mit der OLCO-Osthandelsgesellschaft verbunden?»

      «Augenblick, ich verbinde weiter.»

      Er wartete eine endlose Zeit lang. Dann meldete sich eine zweite Frauenstimme. Sie klang älter, resoluter.

      «OLCO?», fragte Werders.

      «Bitte, was wünschen Sie?»

      «Fatima-Importe. Wir sind neu in diesem Raum und an der Aufnahme geschäftlicher Beziehungen in praktisch allen Warenbereichen interessiert, Traktoren, Werkzeugmaschinen, Möbel …»

      «Bedauere, unser Vertriebsvolumen ist zur Zeit völlig ausgelastet. Vielleicht nehmen Sie Kontakt auf mit der Vertretung der Deutschen Demokratischen Republik? Sie wird Ihnen gern bei der Anknüpfung geschäftlicher Beziehungen behilflich sein.»

      «Danke», sagte Werders, «das werde ich tun. Danke».

      Unter dem Vordach der Trinkhalle wartete er ab, bis der Feierabendverkehr in der Straße immer dichter wurde. Einmal kaufte er ein Päckchen Zigaretten, um

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