Stabile Seitenlage. Wilson Schmidt
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Ich schaute mich um. Erfreulicherweise ist die Terrassenseite unseres Hauses von anderen nicht einzusehen. Dies schützt vor neugierigen Blicken und vor peinlichen Situationen wie dieser, über die ich mir nunmehr einen Überblick zu verschaffen gedachte und einer ersten Bewertung unterzog:
Wilson – auf der Terrasse,
Haus – von der Terrassenseite trotz offener Terrassentür wegen des Rollladens nicht zu betreten,
Haus – durch Haus- und Kellertür mangels Schlüssel außerhalb des Hauses nicht zu betreten.
Fazit: Wilsons Haus für Wilson derzeit nicht zu betreten.
Verzwickt, aber es erschien mir lösbar.
Ein Zweitschlüssel ist für derartige Fälle bei Freunden hinterlegt.
Den zwanzigminütigen Fußmarsch würde ich selbst bei den sommerlich heißen Temperaturen bewältigen. Anlass zur Sorge bereitete mir indes mein Outfit und ließ mich meinen Plan ad acta legen: bis auf Boxer-Shorts war ich unbekleidet.
Den Anblick meines nackten Oberkörpers mute ich, abgesehen von der eigenen Familie, aus anatomischen Gründen lediglich Menschen zu, die das zweifelhafte Vergnügen haben, entweder medizinische Untersuchungen an mir durchführen zu müssen oder zeitgleich mit mir an einem in südlichen Gefilden gelegenen Strand im Urlaub zu weilen. Nur spärlich mit Boxer-Shorts bekleidet durch eine Drei-Millionen-Metropole zu laufen, entspricht weder meiner Natur noch meinem Verständnis eines gelungenen Auftritts.
Ich schlich um das Haus herum in der Hoffnung, ein offenes Fenster zu finden, durch das ich hätte hineinklettern können. Wie ich das als unsportlicher Kerl hätte bewerkstelligen können, hätte auf einem ganz anderen Blatt gestanden. Darüber musste ich mir allerdings keine Sorgen machen, denn alle Fenster schienen verrammelt. Sicher war ich mir nicht, denn irgendein Dussel hatte alle Rollläden heruntergelassen.
Dunkle Wolken zogen auf – nicht nur in meinem Kopf, sondern auch am Himmel. Davon hatte der Wetteronkel kein Wort gesagt.
„Berti!“, schoss es mir durch den Kopf.
Ich war nicht allein im Haus. Na ja, genau genommen war ich auch nicht im Haus. Genau das war ja mein Problem.
Berti war oben. Berti Wilson ist das Kaninchen der Familie. Bertis Käfig steht im Arbeitszimmer neben dem Schreibtisch. Von Berti zu erwarten, die Tür des Käfigs aufzubrechen, die Stufen hinunterzulaufen und die Taste für den Rollladen-Aufwärts-Fahrbetrieb zu betätigen, wäre vermessen gewesen. Von Berti war also keine Hilfe zu erwarten.
In der Ferne war Donnergrollen zu hören. Es hatte sich inzwischen merklich abgekühlt.
Erstes Ungeziefer in Form von Mücken fiel mich an.
Ich erinnerte mich, dass Frau Wilson erst in den späten Abendstunden nach Hause kommen würde. Es konnte gerade erst früher Nachmittag sein.
Das Telefon klingelte.
Jenes Telefon, welches sich hinter dem Eisernen Vorhang befand.
Mir kam die Idee, dass ich versuchen könnte, den Terrassentür-Rollladen per Hand hochzuschieben. Das bisschen Kunststoff sollte sich doch bewegen lassen. Ich verwarf die Idee jedoch sofort wieder. So ein Rollladen konnte einem derartige Eingriffe in seine Befindlichkeiten durchaus übel nehmen und verkanten, bis er sich gar nicht mehr bewegen ließ. Wer weiß, was das wieder kostete.
Das Telefon klingelte noch immer.
In Gedanken ging ich die drei wahrscheinlichsten Möglichkeiten, wer sich am anderen Ende der Leitung befinden konnte, durch:
eine schwerhörige alte Dame, die ihrer jüngeren Schwester in Posemuckel zum 104. Geburtstag gratulieren wollte, sich jedoch verwählt hatte.
„Margot, bist Du´s?“
„Nein, mein Name ist Wilson.“
„Warum gehen Sie denn an das Telefon meiner Schwester?“
„Sie scheinen sich verwählt zu haben.“
„Was ist denn mit meiner Schwester? Hat sie Probleme?“
„Nein, gute Frau, nicht Ihre Schwester, sondern ich habe Probleme. Sogar richtig große Probleme!“
Es konnte der Rollladen-Mann sein, der sich erkundigen wollte, ob wir mit den elektrischen Rollläden zufrieden sind.
Funktionieren ganz prima, Herr Rollladen-Mann. Nicht immer so wie sie sollten, aber ich brauche Sie ja nur anzurufen und Sie bringen das im Handumdrehen wieder in Ordnung. Leider komme ich nicht an das versch****** Telefon ran, weil es sich jenseits Ihres be******** Rollladens befindet.
Die dritte mögliche Anruferin schließlich war Frau Wilson, die während einer Fortbildungs-Pause bei Gebäck und Tee mal hören wollte, ob daheim alles in Ordnung wäre.
Ja, Liebling, alles bestens, ich habe mich zwar ausgesperrt, weder Telefon noch Hemd und Hose zur Hand, es donnert, mich fröstelt und die Mücken saugen mir das Blut aus dem Körper – aber hey, alles bestens!
Das Telefon klingelte nicht mehr.
Wo in Gottes Namen trieb sich eigentlich Frollein Wilson wieder herum?
Väter sollen angeblich eine besondere Beziehung zu ihren Töchtern haben. Mittels telepathischer Kräfte versuchte ich, meine Tochter mit meinen Gedanken zu bewegen, in Sorge um ihren Vater daheim vorbeizuschauen, um mit ihrem Erscheinen und vor allem mit ihrem Schlüssel meiner misslichen Lage ein Ende zu setzen.
Aber außer, dass ich Kopfschmerzen bekam, geschah nichts.
Dies machte mich traurig.
Da zieht man das Kind groß, gibt ihm Nahrung und festes Schuhwerk – und wenn es darauf ankommt, wird man als Vater schmählich im Stich gelassen.
Die Stunden verstrichen.
Auf den Nieselregen folgte schauerartiger Regen und auf den schauerartigen Regen folgte Hagel.
Frau Wilson fand mich um halb zehn Uhr abends zitternd und wimmernd vor der Terrassentür zusammengekauert unter der Fahrradplane.
Neue Nachbarn
„Wir bekommen neue Nachbarn.“
Neuigkeiten sind in den seltensten Fällen gute oder anders gesagt: gute Neuigkeiten sind rar.
Ob diese von der Gattin nur beiläufig erwähnte Nachricht eine gute oder eine schlechte war, würde sich ganz gewiss in den nächsten Wochen und Monaten zeigen.
Das Haus