Die Prüfung. Ralf Wider
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Stärker als Hunger und Durst zehrten die Stille und die Untätigkeit an ihren Nerven. Ausserdem tat Ferrys Hintern weh, vom vielen Sitzen. Auch wenn der Pilotensitz sehr ergonomisch und perfekt an seinen Körper angepasst war, so hatte er trotzdem schon nach einem Tag das Gefühl, wundgesessen zu sein. Also begann er, in der kleinen Pilotenkanzel Turnübungen zu machen. Er setzte sich kniend auf den Pilotensitz, verkehrt herum, machte Dehnübungen, quetschte sich zwischen die Pilotensitze, um halbwegs aufrecht stehen zu können und versuchte, Kniebeugen zu machen. Laura lachte sich dabei fast kaputt. Ihr knackiger Hintern schien nicht zu schmerzen. Sie hatte ihren Sitz so weit nach hinten gekippt, wie es ging und sich kuschelig in die Passform geschmiegt. Einmal hatte er auch versucht, Turnübungen auf Laura zu machen, doch sie hatte ihn lachend, aber energisch weggescheucht. Sex im IFO wäre ein "First" gewesen, welches ihm gefallen hätte, doch Laura fand, sie seien schliesslich keine Teenager mehr... Nun, er durfte sich nicht beklagen, die letzten Tage hatten einige "Firsts" mit sich gebracht… Wenn Ferry dran war mit der Wache, während Laura schlief, erinnerte er sich gerne daran zurück.
Wenn Laura Wache hielt, zeichnete sie auf einem kleinen Zeichenblock, den sie immer in ihrem Rucksack dabei hatte. Ausserdem hatte sie verschiedene Bleistifte mit unterschiedlichen Härten, Kohlestift und ein paar Farbstifte dabei, ein Geo-Dreieck und einen Anspitzer, alles säuberlich in einem flachen Etui verpackt, mitsamt dem Malblock. Sie skizzierte und zeichnete alles mögliche: ihr altes IFO, dass abgeschossen worden war in Atlantis, die Queen of Atlantis - das Schiff, in welchem sie gerade sassen -, Ferry im Tiefschlaf (mit etwas zu grossen Ohren und krummer Nase), einen Maulbeerbaum, die Hauptstadt der Grauen mit dem riesigen Turm und noch viel mehr, was sie in den vergangenen Tagen gesehen hatten.
Wenn sie beide wach waren, erzählten sie sich gegenseitig, was sie alles erlebt hatten in der Zeit ihrer Trennung. Sie hatten sich viel zu erzählen, schliesslich hatten sie sich drei Jahre lang nicht mehr gesehen.
Doch nach drei ganzen Tagen war Ferry heilfroh, endlich wieder Festland zu sehen.
Plötzlich erwachte das Cockpit aus seinem Dornröschenschlaf: dutzende von Lämpchen leuchteten auf, die Bildschirme flackerten kurz, um dann wieder ihren Betrieb aufzunehmen. Es piepste und surrte von allen Seiten.
Sie waren bereits über den schmalen Streifen Meer geglitten und jetzt über dem Festland, mitten in einem geschützten Hafen einer kleinen Stadt. Ferry zog den Beschleunigungshebel in die Nullposition und brachte die Queen of Atlantis zum Stillstand. Er griff auf Lauras Seite hinüber und berührte sie zärtlich an der Schulter. Verschlafen blinzelte sie ihn an.
"Hmm?" brummte sie.
"Guten Morgen, Schlafmütze! Lust auf eine kleine City-Tour?", säuselte er.
Blitzschnell schoss sie hoch und starrte aus der Kanzel. Sie riss die Arme hoch in einer Siegesgeste. Dann liess sie sich mit einem Seufzer wieder in ihren Sitz fallen.
"Geschafft!" Ihre Augen funkelten, als sie zu ihm hinüberblickte. Er grinste.
Sie beeilte sich, ihren Sitz wieder in Flugposition zu bringen und liess ihre geübten Hände über die Armaturen gleiten. In gewichtigem, gespielt förmlichen Ton las sie die Instrumente ab: "Commander, bestätige Ankunft in Essaouira, Marokko-P1. Hat voll hingehauen... Braves Mädchen!" Sie tätschelte den Armaturenblock der Queen. "Funke sofort das HQ an für ein Rescue-Team."
"Wart' noch damit! Ich will mir erst mal die Beine vertreten… Mein Knie ist ganz steif und mein Hintern möchte dringend aus diesem Sitz raus!" Er öffnete die Verriegelung der Glaskanzel und sie glitt lautlos hoch. Eine frische Meeresbrise wehte zu ihnen hinein. Es war warm. Es war herrlich. Etwas ungelenk begann er hinauszuklettern. Die Sprossen der Leiter an der Flanke des Schiffs waren bereits ausgefahren. Laura war schon dabei, auf ihrer Seite herunterzuklettern. Gleichzeitig kamen sie auf festem Boden an und begannen sich umzusehen. Zielstrebig steuerte Laura die Hafenmauer an, wo sie ein geschütztes Plätzchen entdeckt hatte: Pipi machen, war ja klar gewesen.
Ferry hingegen ging auf der Hafenmole auf und ab, streckte sich, hüpfte und versuchte, die steifen Glieder zu lockern. Dann holte er seine Parisienne aus der Brusttasche und zündete sich eine an. Es war die Zweitletzte. Auch diese Rationierung hatte gut hingehauen. Die letzten drei Tage im Schiff hatte er es sich verkneifen müssen, doch jetzt hatte er unendlich Lust, eine zu rauchen. Genüsslich sog er den Rauch tief in die Lungen und liess ihn langsam ausströmen. Er seufzte: das hatte ihm gefehlt.
Laura war zurück, auch sie schien erleichtert und hatte ein Lächeln auf dem Gesicht.
"Endlich.", seufzte sie, "Ich dachte schon, wir kommen gar nie mehr an! So lange im Nebel zu sitzen, ist ganz schön zermürbend."
"Hm.", brummte Ferry und zog noch einmal genüsslich an seiner Zigarette. Ihm war ein bisschen schwindelig im Kopf. Nach drei Tagen Abstinenz haute das Nikotin ganz schön rein. Als er zu Ende geraucht hatte, drückte er den Stummel aus und verstaute ihn in der kleinen Halspastillen-Blechdose, die ihm als mobiler Aschenbecher diente.
Laura war zum Ende der Hafenmole geschlendert und schaute verklärt aufs Meer hinaus, respektive zum Nebel, der hinter dem kurzen Streifen Meer lag. Dorther waren sie gekommen. Atlantis. Was für ein Abenteuer! Auch sie war froh, wieder festen Boden unter den Füssen zu haben; sie hatte sich ihren Ausflug zur Hauptstadt der Grauen anders vorgestellt gehabt. Sie hatte sie einfach finden wollen. Sie war besessen gewesen von ihrer Idee, dass es ein Machtzentrum der Grauen geben musste. Sie hatte es sich selbst und ihren Vorgesetzten, die sie belächelt hatten, beweisen wollen. Es hatte eine schnelle Aufklärungs-Mission sein sollen: reinschleichen, auskundschaften, schnell wieder abhauen. Doch das hatte so nicht hingehauen. Was sie gefunden hatte, war viel grösser und viel besser bewacht als sie es sich vorgestellt hatte! Vielleicht hatte sie auch ihre aufklärerischen Fähigkeiten überschätzt? War sie möglicherweise zu unvorsichtig und ungestüm gewesen? Hätte sie den Feindkontakt vermeiden sollen? Hätte sie ihn vermeiden können? Wahrscheinlich nicht. Sie war abgeschossen worden, zum ersten Mal in ihrem Leben, doch Ferry hatte sie gerettet. Und er hatte sie sicher von der Insel gebracht. Er hatte ihr alles erzählt. Seine irrwitzige Geschichte. Sie hatten ihre Trennung überwunden und wieder zusammengefunden! Sie hatte gemerkt, dass sie ihn immer noch liebte, obwohl sie sich während drei Jahren eingeredet hatte, dass sie ihn hasste, für immer hassen würde… Doch er war gekommen, der edle Ritter in der scheinenden Rüstung, hatte sie gerettet und gepflegt! Er hatte sie geheilt von ihren äusseren Verletzungen und von dem Schmerz in ihrer Seele befreit… Er war ihr Held.
Nein, so hatte sie sich ihren heimlichen Ausflug nicht vorgestellt gehabt... Wärme stieg in ihr auf. Sie bekam rote Bäckchen und fühlte sich wohl. In der Sonne, auf dem Festland. Sie seufzte tief.
"Hast du etwa schon Sehnsucht? Willst du zurück?", fragte es hinter ihr. Ferry war zu ihr getreten und schaute über ihre Schulter in den Nebel, der dick und unbeweglich über dem Meeresstreifen lag.
Sie erschrak und drehte sich zu ihm um; sie hatte ihn nicht kommen hören. Sie schaute ihm tief und verliebt in die Augen.
"Nein. Ich denke, für den Moment ist es okay, mal gerade nicht in Lebensgefahr zu sein…" Sie küsste ihn sanft auf den Mund. "Danke.", fügte sie hinzu.
Er lächelte sie warm an. Sie hatte sich schon mehrfach bei ihm bedankt für ihre Rettung und das ganze Drumherum, doch er hörte es immer wieder gerne. Er war stolz, dass er es geschafft hatte. Er war froh, dass er seine Liebste hatte retten und zurückgewinnen können.
Er warf einen letzten Blick auf den Nebel, fasste Laura um die Taille und führte sie schweigend zu ihrem Doppel-IFO zurück, das fröhlich hüpfend auf sie wartete.
"Apropos