Der Zarewitsch. Martin Woletz
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Ich stand von meinem Stuhl auf und schlurfte in den eleganten Hausschuhen und im Schlafmantel zum Toaster. Ich schob zwei rechteckige Scheiben Roggentoast in die Schlitze und drückte den Schieber nach unten. Mein Blick war auf den Fussboden gerichtet. Ich hatte den Boden am vergangenen Wochenende mit einer Politur eingelassen. Der helle Parkettboden glänzte in der Morgensonne.
Anders als der Boden in dem kleinen grünen Haus damals. Der war dunkelbraun gewesen, fast schwarz, und hatte schon einige Risse. Die Holzdielen waren ganz glatt gehobelt von den tausenden Schritten und Tritten, die in fast siebzig Jahren darauf und darüber getreten hatten. In dem Haus hatten schon meine Großeltern gewohnt. Doch die waren sehr früh gestorben und Vater hatte das Haus übernommen. Vater wollte den Boden herrichten lassen, doch dazu kam er nicht mehr. Er sagte immer, dass dafür später genug Zeit sein würde. Wir hatten nie gedacht, dass es uns einmal so schlecht gehen könnte, dass wir kein Geld mehr für ein bisschen Bauholz haben würden. Unter dem Bretterboden waren einige Löcher und eines davon diente uns als Tresor. Es war ein Familiengeheimnis.
Doch nun waren Vater und Mutter damit beschäftigt die fünf Mäuler mit dem wenigen Geld, das Vater nach dem Zusammenbruch erhielt, zu stopfen. Im Winter oder an verregneten Tagen saß ich die meiste Zeit am Küchentisch und beobachtete das Treiben durch die weißen Spitzenvorhänge im Garten und auf der Straße vor dem Haus. An der Küchenwand hingen zwei Regale, auf denen verbeulte Blechdosen mit Mehl, Zucker, Salz und Zwiebeln standen. In der Ecke neben dem Fenster prangte der schwere gusseiserne Herd, der nicht nur zum Essen kochen diente sondern auch den Großteil des Hauses beheizte. Neben dem Herd stand ein wackeliger Holzschemel, auf dem meine Mutter gerne saß, wenn sie Kartoffeln, Rüben oder Karotten schälte. Vor allem im Winter, wenn es draußen stürmte und der Schnee sich türmte, blieb sie manchmal den ganzen Tag auf diesem Stuhl sitzen, wärmte sich und kochte das Essen. Neben dem Waschbecken ragte ein großer Schrank bis fast zur Decke, in dem sie das Geschirr, die Gläser und das Besteck aufbewahrten und in einer kleinen liebevoll verzierten Holztruhe neben dem Schrank lag fein säuberlich gewaschen und gebügelt die gute Tischwäsche für die Feiertage.
Der Toast sprang aus den Schlitzen. Ich legte die heißen Scheiben auf einen Teller. Dann nahm ich Butter und Erdbeermarmelade aus dem Kühlschrank und trug alles zum Küchentisch. Für ein Frühstück wie dieses hätte ich als Junge viel gegeben.
Wenn ich früher zu großen Hunger hatte, ging ich in das Wohnzimmer, setzte mich auf den Boden und drehte den Fernseher auf. Heute kam es mir eigenartig vor, dass wir zwar manchmal nicht genug zu essen aber einen Fernsehapparat hatten. Wenn ich mich auf die Geschichten im Fernseher konzentrierte, war der Hunger wieder weg. Ich versuchte mir jedes Wort und jedes Detail sofort zu merken und manchmal konnte ich noch viele Wochen später winzige Details oder auch ganze Passagen aus den Sendungen wiedergeben. Die Korelevs waren eine der ersten Familien in ihrem Viertel gewesen, die einen Fernseher bekommen hatten. Eines Tages war Vater mit dem Gerät in der Haustür gestanden und hatte über das ganze Gesicht gestrahlt. Er hatte eine Serie von Einbrüchen aufgeklärt und der Besitzer eines der betroffenen Geschäfte hatte ihm zum Dank dafür einen nagelneuen Fernsehapparat geschenkt. Es war das erste Mal, dass Vater gegen Jokovs Organisation etwas unternehmen musste und gewinnen konnte. Viele Menschen hielten Vater danach für einen Helden und oft kamen fremde Menschen zu unserem Haus um uns Obst, Fleisch oder andere Dinge zu schenken.
Doch oft hatten wir nur ein Stück schwarzes Brot und ein paar Rüben für den ganzen Tag zur Verfügung. Wir hätten natürlich im Garten Obst und Gemüse anbauen können. Wir hatten auch damit begonnen Salat, Karotten, Radieschen, Gurken und Kartoffeln zu pflanzen. Einige Zeit später standen plötzlich drei bedrohlich wirkende Männer in schwarzen Lederjacken in unserem Garten. Als ich diese Männer sah, lief mir ein kalter Schauer über den Rücken. Ich erinnerte mich an jenen Abend ein paar Monate davor, an dem ich am Friseursalon vorbeigeschlichen war. Vater und Mutter waren gerade dabei, Kartoffeln zu ernten um sie am Abend mit ein paar Karotten und Kräutern zu einem schmackhaften Eintopf zu verkochen. Die Männer sprachen kurz mit ihnen. Dann nahmen sie ihnen Schaufel und Hacke aus der Hand und verwüsteten damit den Gemüsegarten. Es war mein erster direkter Kontakt mit Jokovs Männern. Vater hatte Mutter ins Haus geschickt. Sie sollte nicht mit ansehen müssen, wie die Männer wüteten. Außerdem wusste Vater, was diese Bastarde vielen Frauen angetan hatten. Er wollte Mutter aus dem Blickfeld der Verbrecher haben. Vater aber blieb stehen, wo er war. Ich sah durch das Fenster, wie die Männer im Garten tobten, aber Vater zuckte mit keiner Wimper. Er blickte starr auf das Haus, als ginge ihn die ganze Aktion nichts an. Zweimal trafen die Schläger Vater mit der Schaufel am Bein, doch auch das schien er nicht zu spüren. Als die Männer alles zerstört hatten, warfen sie die Gartengeräte vor Vaters Füße und verließen den Garten. Jokov wollte die Bewohner zwingen in seinen Läden zu kaufen. Jeder, der versuchte sich selbst zu versorgen, bekam Besuch von den Männern des „Zarewitschs“, wie er sich mittlerweile nannte. Nachdem nun auch wir Besuch bekommen hatten, mussten auch wir die meisten unserer Lebensmittel in seinen Läden kaufen. Selbstverständlich zu überhöhten Preisen und in schlechter Qualität. Das führte dazu, dass wir manches Mal sogar hungern mussten. Wir wurden anfällig für Krankheiten. Mutter hatte am meisten unter den Entbehrungen zu leiden, doch auch Vater wirkte nach wenigen Monaten ausgezehrt. Natürlich gaben die Eltern zuerst uns Kindern und nahmen sich nur, was übrig blieb. Doch das war nie genug.
Ich stand auf um ein Messer aus der Küchenlade zu holen. Auch nach so langer Zeit waren die Bilder in meinem Kopf frisch. Ich hatte nichts vergessen. Es fiel mir leicht, mir Dinge zu merken. Manches hätte ich lieber vergessen. Vielleicht war das ein Fehler von mir, dass ich alles bis ins Detail verfolgte, mich überall hineinbohrte, bis es nichts mehr zu finden gab. Nur so war es mir möglich, mich festzulegen, einen Weg zu finden, ein Ziel zu erreichen. Bevor ich mich für eine Lösung entschied, musste ich möglichst alles wissen, was es zu diesem Thema zu wissen gab. Das war wie ein Zwang. Ich stand vor der geöffneten Bestecklade und blickte auf die funkelnden Dessertmesser. Ich nahm eines heraus und ging zu meinem Platz zurück.
Neben uns wohnte mein bester Freund Simeon. Sein Vater hatte sich mit den Verbrechern arrangiert und war zum Informanten geworden. Als die Verbrecher schließlich auch von uns Schutzgeld verlangten, verriet Simeon seinem Vater, dass unter den Dielen in unserer Küche ein Geheimfach war. Ich hatte Simeon einmal davon erzählt. Ich wusste damals nicht genau, was da drinnen war. Ich bot ihm an unseren Tresor zu nutzen, falls Simeon einmal etwas verstecken wollte. Ich hatte meinem besten Freund helfen wollen und dann verriet er uns! Wieder tauchte ein Bild in meinem Kopf auf, detailliert, wie wenn es gerade geschehen würde.
Eines Abends bog ich in meine Straße ein und blieb wie versteinert stehen. Vor unserem Haus stand ein großer schwarzer Wagen, wie ich ihn vor dem Friseursalon schon einmal gesehen hatte. Zwei Männer mit schwarzen Lederjacken lehnten auf der Motorhaube und rauchten genüsslich eine Zigarette. Ich ging langsam den Zäunen entlang auf die Männer und den Wagen zu. Bevor sie mich entdeckten, kletterte ich rasch über einen Gartenzaun und rannte durch die Gärten bis zu unserem Haus. Dann schlich ich mich an die Terrassentür heran. Der Schweiß war mir auf der Stirn gestanden und in meinem Kopf tauchten wieder die Bilder vom Friseur und dessen Frau auf. Ich hatte Angst davor, Vater blutend zwischen den Schlägern zu sehen und Mutter weinend und schreiend in der Gewalt eines anderen schwarzgekleideten Verbrechers.