STURM ÜBER THEDRA. Michael Stuhr
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Nun war Isco aber schon von altersher das Zentrum des Ofisa-Kults; und die Ofisa-Anhänger waren die eingeschworenen Feinde der Harmuged-Jünger. Allgemein wurde befürchtet, dass die Harmuged-Leute es auf das Ofisa-Heiligtum, den Tempel der sprechenden Höhlen, abgesehen hatten.
In seiner weitschweifigen Art hatte der Kapitän Gerit erklärt, dass ein Aufeinanderprallen der beiden Religionen kaum noch zu verhindern war. Auf der einen Seite standen Ofisas Anhänger, die in Isco sozusagen Hausrecht hatten. Sie kontrollierten weite Teile des öffentlichen Lebens und setzten die für alle verbindlichen Maßstäbe in Sachen Moral und Ethik. Dass der Orden dabei immer reicher wurde, war angeblich nur ein angenehmer Nebeneffekt.
Auf der anderen Seite stand der Wanderorden Harmugeds. Sein Gefolge war über den ganzen Kontinent verbreitet. Wie viele Anhänger diese Gemeinschaft zählte, ließ sich nur ahnen. Ebenso konnte niemand auch nur annähernd schätzen, welches Aufgebot an Pilgern sich mittlerweile zwischen den Hügeln Iscos aufhielt.
Mit anderen Worten: Der Löwenbootmann hatte kaum übertrieben; die Situation war brisant. Ganz davon abgesehen, dass er von Natur aus recht redselig und nervös zu sein schien, machte der Kapitän sich wirklich Sorgen um die Sicherheit seiner Passagiere. Hätte er nicht noch auf den Rest seiner Fracht warten müssen, wäre die `Sesiol' schon lange auf hoher See gewesen.
Tana und Teri hatten mittlerweile den Verschlag am Bug wohnlich hergerichtet. Sogar einen Vorhang aus einem alten Stück Segeltuch gab es, der als Sicht- und Wetterschutz zugleich diente.
Nachdem Teri eine Weile zugehört hatte, wie die wütende Tana in der Kabine herumrumorte und dabei zornig Halbsätze wie "...nicht einmal 'ne Plane", oder "...können alle reingucken", vor sich hingezischt hatte, war sie einfach losgegangen und hatte vom Kapitän einen Vorhang gefordert. Und siehe da: Es gab nicht nur ein genau passendes Stück Segeltuch in einer Kiste vor dem Mast, sondern das Dach des Verschlags war obendrein noch mit einer sinnreichen Klemmvorrichtung versehen, in welcher das obere Ende des Vorhangs befestigt werden konnte.
Von da an war es um Tanas Laune wieder besser bestellt. Am Abend saß die ganze Familie unter dem festen Dach hinter der Plane, und alle fühlten sich so wohl dabei, dass sie im Sitzen einschliefen.
Am nächsten Vormittag wurde es unruhig in der Stadt. Ein Händler, der auf dem Kai zu tun hatte, berichtete, dass die Harmuged-Leute begannen, sich vor dem Ofisa-Heiligtum zu sammeln. Sofort schickte der Kapitän einen seiner Leute an Land, der nach der Restfracht fragen sollte. Er hatte Order, dem Auftraggeber mitzuteilen, die `Sesiol' liefe auf jeden Fall mit der Abendflut aus, ob er nun geliefert habe oder nicht.
Gegen Mittag hörte Teri einen vielstimmigen Schrei von jenseits der Hafenmauern. Immer wieder erbebte die Luft über Isco unter den Rufen einer gewaltigen Menschenmenge.
Wachmannschaften sammelten sich am Hafen und stiegen dann zögernd die Stufen zur Stadt empor. Fliegende Händler räumten eilig ihre Stände ab und verschwanden in den winkligen Gassen. Hafenbewohner verbarrikadierten ihre Hauseingänge und Fenster mit Brettern und Balken.
Teri saß auf dem Dach der Kabine und sah zu, wie sich der Hafenplatz leerte. Ab und zu hastete noch eine Gestalt über das Pflaster. Es schien Teri, als seien die Leute auf der Flucht.
Ganz leise war es im Hafen geworden. Kein Lüftchen regte sich. Wie ausgestorben lag der Hafenvorplatz in der Mittagssonne. Nur das tausendstimmige Summen in der Luft drang über die Häuser hinweg. Manchmal verstummte es fast; dann hörte es sich wieder an wie ein Schwarm weit entfernter Insekten, bis sich die Leidenschaft der Masse wieder in einem tosenden Aufschrei entlud.
Gespenstisch war es, das alles zu hören, aber nichts davon zu sehen. Jetzt bewegte sich im Hafenviertel absolut nichts mehr. Nur die Besatzungen der Schiffe standen auf den Decks und schauten besorgt auf den Kai hinaus. Mancher Kapitän wäre jetzt wohl gern ausgelaufen, aber daran war nicht zu denken. - Es war jetzt erst kurz nach der Tagteilung und die auflaufende Flut würde erst gegen Abend ihren Höchststand erreichen. Bis dahin saßen alle größeren Schiffe mit ihrem Kiel im Schlick des Hafengrundes fest.
Plötzlich tönte ein dumpfes Grollen aus einer der tiefer gelegenen Gassen. In vollem Lauf kamen drei Männer mit einem großen Karren aus der Stadt, orientierten sich kurz und lenkten das Gefährt dann zu der `Sesiol'.
Sofort begannen zwei von ihnen, mehrere kleine Kisten über die Laufplanke auf das Löwenboot zu schleppen, während der dritte dem Kapitän einen Lederbeutel in die Hand drückte. "Achthundert", sagte er hastig. "Wie besprochen. - Lauft so schnell aus, wie ihr könnt!"
Der Kapitän grunzte nur unwillig. Offenbar hatte es ihm die Sprache verschlagen.
"Die Harmuged belagern den Tempel der sprechenden Höhlen", berichtete der Fremde. "Sie fordern die Ofisa zum Kampf. - Der Tempel ist verschlossen. Die Ofisa haben sich dort versammelt. Sie wollen kämpfen bis zum Tod. Wenn sie die Tempeltore öffnen, dann wird Isco brennen! - Ich muß zurück in die Stadt. Ich muß meine Ware retten!"
Mit diesen Worten drehte der Mann sich um und hastete über die Planke davon. Seine Gehilfen hatten die Kisten achtlos auf das Deck gestellt, wo sie gerade Platz fanden und waren mit dem Karren schon eilig zwischen den Häusern der Stadt verschwunden.
Wieder begann das Warten auf die Flut. Ein leises Gluckern zwischen Bordwand und Kaimauer verriet, dass das Wasser in Bewegung war. Aber es würde noch Zeit vergehen, bis die `Sesiol' wieder frei auf dem Wasser des Hafens von Isco schwamm.
Am späten Nachmittag endlich verriet ein Knarren im Schiffskörper, dass die `Sesiol' langsam aus dem Schlick gehoben wurde. Trotz der Windstille im Hafen begann der lange Mast ein wenig zu schwanken. Ein gutes Zeichen.
Teri machte sich Gedanken um die Kraan. Traumverloren auf den leeren Kai schauend, kraulte sie geistesabwesend die Felldecke, das Geschenk Askas. Wie mochte es den Artisten wohl ergehen? Der Lärm in der Stadt war zu einem nichtendenwollenden, tausendstimmigen Schrei der Wut geworden. Er war, als tobe hinter den Häusern des Hafens ein gigantisches Ungeheuer in maßlosem Zorn.
Teri dachte an den Armreif, den sie aus dem Stroh ihres Lagers für Aska geflochten hatte. Dieser Eine war ihr besonders gut gelungen, und stolz hatte sie ihn der alten Frau zum Abschied überreicht. Ob es den Reif wohl noch gab, oder ob er sich, wie all ihre früheren Werke, schon nach kurzer Zeit wieder in einzelne Halme aufgelöst hatte?
Angst überkam Teri, wenn sie daran dachte, dass ihre Freundin und Lehrmeisterin irgendwo in dieser brodelnden Masse sein könnte, die auf dem Platz vor dem Tempel tobte und kreischte. Aber die Kraan waren ein kluges Volk. Sicher hatte Aska die drohende Unruhe rechtzeitig erkannt und ihre Gruppe an einen sicheren Ort geführt.
Plötzlich schwoll der Lärm noch mehr an. Teri schrak aus ihren Betrachtungen auf. Undeutlich sah sie Bewegungen in den schmalen Gassen und auf den Treppen, die in die Stadt führten. Schnelle Schritte und einzelne Rufe drangen durch das fanatische Geheul, das immer näher kam. Unwillkürlich sprang Teri auf und wich einen Schritt zurück.
Ungeordnet und in offenbar panischer Flucht stürzte ein gutes Hundert der Wachmannschaften auf den Hafenplatz. Hinter ihnen quoll aus allen Gassen eine unglaubliche Menge dunkel gekleideter Gestalten hervor, die in wilder Hast bemüht waren, sich heller gekleideten Angreifern, die ihnen nachsetzten, zu entziehen.
"Ha! Die Ofisa hatten Waffen im Tempel!", rief der Kapitän aus. "Hab ich's doch gewußt! - Heilig tun sie! - Niemand etwas zuleide tun können sie! Aber ..."
Jetzt