Mit blossen Händen. Wolf-Rainer Seemann

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Mit blossen Händen - Wolf-Rainer Seemann

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seine Frau offenbar die Wahrheit über ihn erfahren hat.

      Erst in der Nacht liest er den Brief, und er liest über die eigene Schande aus dem Blickwinkel seiner Frau. Dann erst beginnt die Wut in ihm zu brodeln. Erst beim elften Durchlesen versteht er den letzten Satz: „… und ich soll dir sagen, Tankred ist bei Wolfgang in Sicherheit. Den kannst du auch mal abschreiben, so!“

      Tankred ist bei Wolfgang in Sicherheit!

      Doch in ihrer Naivität verrät sie ihren Aufenthalt im Flughafenhotel. Er steht bereits angezogen im Hof, mit dem Autoschlüssel in der Hand, da überkommen ihn Zweifel. Sicher wird sie ihn jetzt nicht sehen wollen. Um diese Zeit wird man ihn im Hotel auch nicht einlassen.

      Er verschiebt seine Suche auf den Morgen, den er wachend erwartet. Gegen zehn Uhr fährt er zum Flughafen, weil er um die Angewohnheit seiner Frau weiß, lange zu schlafen. Er sieht sie im Frühstückssaal und wartet, bis sie sich auf den Rückweg macht. Er folgt ihr bis zu ihrem Zimmer und fühlt sich wie ein Dieb. Dann wagt er, sie schüchtern anzusprechen.

      „Pergola?“

      Sie dreht sich um und blickt ihn unverhohlen verächtlich an.

      „Was willst du?“

      „Mit dir reden.“

      „Ach nein? Plötzlich will der Herr reden. Du hast mich belogen, wochenlang! Du ...“

      „Können wir nicht im Zimmer darüber sprechen? Es muss ja nicht jeder hier mitbekommen ...“

      „Es soll jeder mitbekommen, was für einen Mann ich habe – hatte!“

      „Bitte, Pergola“, sagt er und schiebt sie sanft ins Zimmer. „Du schreibst in deinem Brief, Zach habe dir alles erzählt und Tankred sei bei ihm in Sicherheit. Tankred bei Zach! Weißt du, was das bedeutet? Das Gegenteil ist der Fall. Zach benutzt Tankred, um dich und mich zu erpressen.“

      „Du spinnst ja!“, sagt sie. „Wolfgang sagt, ich könne zu ihm kommen, und genau das mache ich. Ich warte nur noch auf einen Anruf von ihm, und weg bin ich, verstehst du?“

      „Du hast mich nie geliebt“, stellt er bitter fest.

      „Du mich doch auch nicht. Du hast mich immer nur wie eine Monstranz vor dir hergetragen. Unberührbar, schön und vor allem schmückend. Soll ich dir sagen, dass ich, als du mir ein Kind gemacht hast, dabei an Wolfgang dachte? Ja, verdammt, ich habʼs getan und mich dabei elend gefühlt. Ich hätte ganz gerne mal ein wildes Tier wie ihn zwischen den Beinen gehabt, aber du ...“

      „Du bist ordinär“, sagt er.

      „Mein Gott, ja!“, ruft sie aus und streckt ihm ihre makellosen weißen Brüste entgegen. „Ich bin nicht Audrey Hepburn. Das hast du immer nur gemeint. Und glaub nur nicht, ich wüsste nicht von deinen kleinen Nutten, die du in der Klinik gevögelt hast. Du hast deine berühmte Nächstenliebe ganz schön geschlechtsgebunden verteilt. Du bist so was von verlogen, du kennst dich schon selber nicht mehr.“

      Pergola wirft sich auf das Bett und schreit ins Kopfkissen, was in hemmungsloses Weinen übergeht. Harry setzt sich neben sie und streicht ihr über den Kopf.

      „Rühr mich nicht an!“

      „Das mit anderen Frauen war nur Sex. Hättest du mit mir ...“

      „Ach, hör auf!“, schreit sie ihn an. „Was glaubst du, wie sich eine Frau fühlt, die von ihrem Mann immer nur als Irikone oder wie das heißt ...“

      „Ikone.“

      „Von mir aus. Ich hab das nie sein wollen, Harry.“

      „Lass uns neu beginnen.“

      „Sag mal, hörst du mir überhaupt zu? Du kannst doch zwanzig Jahre nicht ungeschehen machen. Aber ich hätte bis zum bitteren Ende mitgespielt. Gut. Doch jetzt hast du mich wirklich betrogen, als du mir deine Entlassung verschwiegen hast. Ich bin für dich wirklich nur so eine Ikontre, ein seelenloses, bemaltes Holz, umgeben von unsichtbaren und unfühlbaren Gedanken. Du hast in mir immer deine Traumfrau gesehen. Deine Probleme haben angefangen, als ich wirklich geworden bin.“

      Harry schweigt. Sie hat recht, Traumfrauen sollten in Träumen bleiben. Zwanzig Jahre lang hat er sie auf einem Podest angebetet und sich ums Kennenlernen gedrückt. Zwanzig Jahre hat ihm sein Gedankengebäude genügt. Es hat seiner Entlassung bedurft, um in ihre Seele zu blicken.

      „Es ist zu spät Harry. Ich gehe zu Wolfgang. Du kannst alles behalten, das Haus, Auto, Geld, alles. Wenn du die Scheidung willst, gerne. Aber ich denke, sie wird für dich zu teuer werden. Ich will dich nicht auch noch bestrafen.“

      Harry schluckt. Vor ihm liegt eine andere Frau oder dieselbe Frau liegt vor einem anderen Mann. Einsteins Relativitätsgesetz, Blödsinn!

      „Wolfgang spielt ein Spiel mit dir, mit uns. Er hat das alles inszeniert, um mich zu erpressen!“

      „Du bist so erbärmlich, Harry. Merkst du das nicht? Such doch einmal, einmal die Schuld bei dir. Bitte geh jetzt. Ich hätte bei Wolfgang bleiben sollen, ich hätte immer bei ihm bleiben sollen.“

      ***

      Wie betäubt stolpert Harry Feldkamp aus dem Hotel. Er fühlt sich auf ganzer Linie geschlagen. Zwanzig Jahre hat er in der falschen Ehe oder im falschen Leben gelebt. Ich habe die glänzende Monstranz angebetet und die Trägerin dabei übersehen, gesteht er sich ein. Und nun ist er im Begriff, Frau und Sohn an Zach zu verlieren. Weshalb tut Zach das? Doch nicht aus Rache, weil er nicht mit ihm zusammenarbeiten will? Es kann ihm doch nicht nur um diesen Waffentransport gehen. Was ist das für ein Mensch, der seinen Lebensretter zum Dank vernichtet? Tankred ist in Sicherheit? Von wegen! Tankred muss man vor sich selbst in Sicherheit bringen. Ein Psychiater wäre der bessere Partner für einen Gedankenaustausch, nicht ein Waffenhändler.

      Zu Hause legt er sich ins Bett. Ein Privileg der Arbeitslosigkeit ist das Ausleben von Faulheit oder Depression. Seine Familie hat ihn verlassen!

      Seine nächtelangen Diskussionen mit sich selbst führen ihn immer wieder in einer Schleife zum Ausgangspunkt zurück. Er ist Opfer von Zachs Intrige. Einzig Zachs Wirbelkörperbruch war echt. Zach hat seine eigene schwere Verletzung genutzt, um Harrys Hilfsbereitschaft gegen ihn selbst wenden. Job verloren, Frau verloren, Sohn verloren. Die aufkommende Leere füllt er mit Bourbon, bis er in komatösem Zustand ist.

      Hauptsache, Tankred ist bei Wolfgang in Sicherheit.

      austäüre hinauf

      Doch am andern Morgen ist nichts besser, im Gegenteil. Thor steht vor seinem Bett und betrachtet herablassend, wie Feldkamp den Suff aus seinem Hirn schwitzt.

      „Du komm mit!“, bestimmt er so schneidend wie eine norwegische Spaltaxt.

      „Wie bist du ...?“, versucht Feldkamp.

      „Los, aufstehen und anziehen!“

      Thor wirft ein Bündel nagelneuer Hosen, Hemden, Unterwäsche und Jacketts aufs Bett. Als Feldkamp im Bett liegen bleibt und auf seinen unerwarteten Besitz starrt, sagt Thor:

      „Los, ich will dich nackt sehen!“

      „Aha?“

      „Keine

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