Mit blossen Händen. Wolf-Rainer Seemann

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Mit blossen Händen - Wolf-Rainer Seemann

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      „Hier ist Wolfgang, Wolfgang Zach, dein Wolfgang!“, hört Pergola diese tiefe, brummige Stimme, die in ihrem Bauch Resonanz erzeugt und ein Kribbeln. Sie bemerkt nicht erst beim Klang der leicht elektronisch verzerrten Stimme, wie sehr sie ihn vermisst. Und sie denkt an ihr allererstes Zusammentreffen zurück, das ihn seine linke kleine Zehe kostete.

      So einen muss man doch lieben, oder? Bis 1989 waren sie mit Unterbrechungen zusammen. Dann wanderte Zach nach Algier aus und wurde reich. Ein Jahr später folgte sie ihm. Doch die ewige Hitze, Staub, Lärm und das despektierliche Verhalten der Männer zwangen sie zur Rückkehr. Und da war ja noch Dr. Harry Feldkamp.

      Harry konnte sein Glück kaum glauben. Der gute Harry, denkt sie. Ihm fielen immer die Augen aus dem Kopf, wenn er sie im Minirock sah. Und jetzt durfte er sogar mit ihr schlafen. Zwei Mal hatte sie es ihm erlaubt. Zwei Mal! Dann war sie schwanger. Noch heute muss sie den Kopf über sich schütteln. Hatte sie etwa an Fortpflanzung durch Zellteilung geglaubt?

      „Wolfgang“, flüstert sie mit zitternder Stimme.

      Zwar ist ihr Fortpflanzungsfenster geschlossen, das ihrer Sexualität aber nicht. Sie schließt die Augen und stellt sich Zach als Mann im besten Alter vor. So wie damals, als er sie am Gründonnerstag 1993 für ein halbes Jahr „ausgeliehen“ hat: Ein Hüne mit Augen, die einen in die Luft heben konnten. Rauschende Wochen in Casablanca, Agadir, Algier und Marrakesch waren es. Als sie zurückgeschickt wurde, war ihr Söhnchen Tankred ein halbes Jahr älter und erkannte sie nicht mehr. Harry hatte sie mit großen Augen angeschaut, aber nichts gesagt. Wenn man die tollste Frau im Lande bekommt, muss man halt Abstriche machen, oder? Aber die Zeit mit Wolfgang war der Wahnsinn!

      „Ja, mein Mädchen“, sagt er heiser.

      Beide hören den Atem des anderen, der in ihrer Vorstellung zu alterslos erotischen Filmsequenzen transformiert wird. Wenn sie einatmet, kann er das Zittern ihres Atems hören und sie das Schnauben seiner Gier.

      „Ich ...“, beginnt sie und will sagen „liebe dich“, lässt es jedoch, weil sie das nicht darf.

      „Ich weiß!“, beantwortet er das Ungesagte. „Ich denke so oft an dich.“

      Sie lacht laut auf. Seine Lügen hört sie gerne, die kribbeln im Nacken wie eine Gänsefeder.

      „Ich weiß, du hast es schwer mit Tankred und mit Harry.“

      Sie schnaubt, bis Schleim aus ihrer Nase tritt. Ja, sie fühlt diese unsägliche Bürde, die Tankred ihnen allen auferlegt. Trotz Hausverbots in den Casinos gelingt es ihm immer wieder, durch die Kontrollen zu schlüpfen und sich und seine Eltern weiter ins Unglück zu stürzen. Doch woher weiß Wolfgang Zach davon?

      „Ich will dir helfen, mein kleines, zartes, windverwehtes Seidentuch ...“

      Sie legt den Kopf in den Nacken und schließt die Augen. So hat er sie früher immer genannt. Sie sei so zart wie ein windverwehtes Seidentuch, hat er immer gesagt.

      „Ich bezahle alle Spielschulden von Tankred. Aber er muss für ein paar Wochen hart bei mir arbeiten. Ich weiß, wie man solche Kerle von ihrer Sucht kuriert. Was meinst du dazu?“

      Pergola schluckt. Damit hat sie nicht gerechnet. Wie kommt er dazu, was treibt Wolfgang nach so vielen Jahren an, sich in ihre familiären Angelegenheiten zu mischen?

      „Ich weiß nicht, ich verstehe nicht, ich muss erst Harry fragen“, stottert sie.

      „Harry?“, lacht Zach spöttisch. „Gib ihn mir, ich rede mit ihm.“

      „Aber Harry ist doch um diese Zeit in der Klinik“, protestiert sie.

      „Wo soll Harry sein? In der Klinik? Entschuldige, aber in welcher Traumwelt lebst du?“

      „Ich – ich verstehe dich nicht.“

      „Harry ist vor über einem Monat gefeuert worden. Er ist arbeitslos, verstehst du? Arbeitslos. Das weiß doch jeder, nur du nicht. Typisch Harry! Soll ich dir sagen, was er macht, dein Harry?“

      „?!?“

      „Er hockt in Cafés herum und schlägt die Zeit tot, bis er nach Hause kommen darf. Oder er bewirbt sich für einen Posten und wird abgelehnt, der arme Kerl.“

      Jetzt ist das Schweigen zwischen ihnen ein anderes, bar jeder Erotik und voller ungläubigem Entsetzen auf der einen und planvoller Genugtuung auf der anderen Seite.

      „Ich – ich verstehe immer noch nicht – ich glaub das nicht.“

      „Du musst mir nicht glauben, frag ihn, wenn er sich nach Hause traut“, sagt er kühl.

      „Aber um Gottes willen, weshalb?“

      „Weil er ein Operationsset gestohlen hat und ohne Erlaubnis seinem Arbeitsplatz ferngeblieben ist.“

      „Und wieso weißt du das alles und ich nicht?“

      „Ich hab dich, mein Seidentuch, und Harry nie aus den Augen gelassen. Doch jetzt hat Harry übertrieben. Ich kann nicht mit ansehen, was dieser Verrückte mit dir macht. Du bist zu gut für diese Welt, verschließt die Augen vor der Wirklichkeit. Das macht nichts, du hast ja mich, der auf dich aufpasst. Lass dich von diesem Kerl scheiden, ich hol dich da raus.“

      „Wolfgang!“, ruft sie voll Verzweiflung und will sogleich herausgeholt werden.

      „Wir machen Folgendes: Ich nehme Tankred zu mir, damit er nicht noch mehr Unheil anrichten kann und bezahle eure Schulden. Du trennst dich von Harry und wenn die Scheidung durch ist, kommen wir endlich zusammen, nach so vielen Jahren.“

      „Wolfgang!“, sagt sie weinend.

      „Und sag diesem Irren ausdrücklich, dass Tankred bei mir ist. Er soll ja keine Dummheiten machen“, sagt Zach hart. „Ich möchte nicht, dass er dir in seiner Verzweiflung womöglich etwas antut!“

      „Mir etwas antut?“, schreit sie auf. Sie überhört dabei das unterdrückte Glucksen am anderen Ende der Leitung. „Um Gottes willen, Wolfgang, hilf mir. Was soll ich denn tun?“

      „Beruhig dich, mein Liebes. Schreib ihm einen Brief. Mach ihn fertig, dieses Schwein. Und sag ihm vor allen Dingen, dass Tankred bei mir in Sicherheit ist. Du ziehst sofort in ein Hotel, weit weg von diesem Versager. Dann werden wir weitersehen.“

      Initiation

      Harry Feldkamp stapft müde und durchgefroren die Treppe zur Haustüre hinauf, als befände er sich am Einstieg zur Eiger Nordwand. Bereits als er die Türe aufschließt, fällt ihm die eigentümliche Verlassenheit des Gebäudes auf. Es riecht zwar noch nach seiner Frau und Tankred, die Zimmer sind noch warm, doch die Stille hat etwas Abschließendes.

      „Pergola!“

      Natürlich keine Antwort. Er eilt die Treppe nach oben, öffnet das Schlafzimmer und Tankreds Zimmer. Leer, leer, alles leer! Harry fühlt die Leere des Wegseins. Er durchsucht die Nachttischschubladen, überprüft Pergolas Kleiderschrank, dessen Leere ihm die Luft nimmt.

      „Ingrid!“, schreit er und nennt erstmals seit Jahren wieder ihren wahren Namen.

      Harry

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