Mit blossen Händen. Wolf-Rainer Seemann

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Mit blossen Händen - Wolf-Rainer Seemann

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jede Zelle ist ein Gefängnis“, krächzt Zach und versucht ein Lächeln, das aber nicht recht gelingt.

      Ja, Zachs Gesichtszüge sind gealtert, stellt Feldkamp fest. Falten wie Canyons durchziehen die Wangen, obwohl Zach weder trinkt noch raucht. Vielleicht ist vorzeitiges Altern der Preis der Angst eines Waffenhändlers, denkt Feldkamp. Oder es sind die Frauen, die ihn fertigmachen?

      Er weiß von Zachs vier Frauen. Seine Hauptfrau Swita lebt in Teheran. Sie ist die Tochter eines ehemaligen Ministers des Schah-Regimes. Eine Nebenfrau lebt in Marrakesch, die andere in Algier. Nur Feldkamp kennt Zachs vierte Frau, die mit ihren drei Söhnen in Deutschland lebt. Nicht einmal Swita weiß von ihr.

      „Sechs Wochen Bettruhe“, sagt Feldkamp kurz angebunden.

      „Wie geht es unserer seidenweißen Pergola? Muss sie den Abstand zwischen Mund und Flaschenöffnung immer noch mit Daumen und Zeigefinger abmessen, wenn sie aus der Flasche trinken will?“

      „… und später nur mit Halskrause, ein bis eineinhalb Monate lang.“

      „Dir steht das Alter jedenfalls besser als mir. Aber sicher wissen das deine OP-Schwestern und Ärztinnen auch besser als ich, gell?“

      „Bevor du die Halskrause ablegst, will ich dich nochmal sehen.“

      „Können wir eigentlich noch normal miteinander reden oder behalten wir das Rückwärtsgequatsche bei, Harry?“, hustet Zach wütend.

      „Ich will nur weg von hier.“

      „Zweihunderttausend Dollar, wenn du bis Sonntag bleibst. Damit hast du die Spielschulden deines Sohnes Tankred mit einem Schlag vom Hals.“

      Feldkamp zieht scharf die Luft ein. Er riecht Medikamente, Urin und Holz. Sonntag wäre übermorgen. Woher weiß Zach von Tankreds Spielschulden? Egal, er kann für zweihundert Riesen einen Tag seines Lebens opfern. Genau genommen wäre es eine angemessene Bezahlung für eine abgewendete Querschnittslähmung und den Fick mit meiner Frau, denkt er. Er kann sich ein Leben ohne Tankreds Spielschulden schon nicht mehr vorstellen. Unter jedem Dach ein Ach …

      „Du kannst mir das mit Pergola nicht verzeihen“, stellt Zach betrübt fest.

      „Würdest du mir dasselbe mit Swita verzeihen?“

      „Och Harry, die Polygamie hat so ihre speziellen Vorteile. Da fällt so ein falscher Stecker in der Büchse kaum auf. Du kannst dir übrigens zu den zweihunderttausend noch eine Million dazuverdienen, wenn du mir bei einem Transport hilfst“, sagt er verschwörerisch, als ginge es um die Lieferung wertvoller antiquarischer Bücher. Feldkamp liebt diese alten Schinken, das weiß er.

      Zachs Stimme wird heiser, weil Feldkamp den Nervus Recurrens während der Operation malträtiert hat. Geschieht ihm recht, denkt der.

      „Du bist so ekelhaft wie immer. Ich will gar nicht wissen, worum es geht. NEIN.

      „Worum? Um Waffentransport natürlich!“, versucht Zach zu lachen. „Dieses Mal quer durch Russland nach Wladiwostok und von dort via U-Boot in den Persischen Golf und dann zu uns in den Iran. Das ist ein verzweifelt langer und gefahrenvoller Weg. Deshalb sollst du eine BND-Beamtin für mich aushorchen. Der BND ist gut vernetzt, wenn es um Proliferation und Waffen geht“, fährt Zach unbeirrt fort. Er blickt Feldkamp spöttisch an, weil er dessen Reaktion schon vorausgesehen hat. Er kennt Harry seit ihrer Kindheit und er weiß, wie man ihn triggern kann.

      „Es geht um die Leiterin der Abteilung PW, Proliferation und Waffenhandel, im BND. Sie heißt Nelly van Eid. Klingelt es da bei dir?“

      Nelly van Eid, die sechsjährige Tochter der Sergejewa Eiderowa. Sie waren Aussiedlerinnen, die anlässlich des Staatbesuches von Leonid Breschnew bei Helmut Schmidt im November1981 in den Westen ausreisen durften. 1982 traf Sergejewa mit ihrer sechsjährigen Tochter Nelly in Freiburg ein. Feldkamp besorgte ihr einen Job bei Didi Maier, dem Erdbeerplantagenbesitzer. Da waren Zach und Pergola schon zusammen. Hätte er doch damals die erheblich ältere Sergejewa genommen, dann hätte er jetzt eine Tochter beim BND und keinen aufsässigen Sohn in Spielcasinos. Doch dann wäre die Sergejewa heute sechsundsechzig und er achtundvierzig. Das wäre auch nicht gut gegangen.

      „Du hast sie ja nicht alle!“, schnaubt Feldkamp empört und eilt nach draußen. Er ist kein Freund von frischer Luft, doch jetzt ...

      Draußen ist es erheblich kühler als drinnen. Er saugt gierig die frische Luft in die Lungen. Ohne Unterlass werden Schwerverletzte aus dem Berg geholt. Innerhalb weniger Tage hat sich eine kleine Zeltstadt entwickelt, in der operiert, betreut, gestorben und überlebt wird. Was ist hier geschehen, fragt er sich. Was meinte Thor mit westlichen Medien? So ein Berg explodiert doch nicht von alleine. Seine professionelle Neugier und das Leid, vor dem er sich nicht verschließen kann, treiben ihn zum Ort des Unglücks. Es sind vorwiegend Männer, die anderen Männern helfen.

      Sanitäter tragen Verletzte auf Bahren und eilen im Laufschritt oder schlängeln sich mit ihrer Last zwischen gestikulierenden Soldaten hindurch zu Zelten, vor denen sie die Verletzten mitunter einfach aus der Bahre kippen. Hier stapeln sich schreiende Schwerverletzte. Hin und wieder kommt ein Arzt und markiert sie mit einem wasserfesten Edding auf der Stirn. Die mit den roten Kreuzen auf der Stirn werden später hinter einen Sandhügel gebracht. Das sind offenbar diejenigen, denen man nicht mehr helfen kann.

      „Triage“, denkt Feldkamp. Man kümmert sich um die, die eine Überlebenschance haben, die andern lässt man sterben. Hin und wieder meint Feldkamp hinter dem Hügel ein Flupp Flupp zu hören. Aber vielleicht täuscht er sich ja.

      Er kann es nicht lassen und bindet einem Schwerverletzten den Oberarm ab, weil er sonst verbluten würde. Jemand brüllt ihn an, den er nicht verstehen kann.

      „Ich bin Chirurg“, ruft Feldkamp und deutet auf seine Brust. „German Surgeon. May I help you?“

      Irgendjemand spricht Deutsch und schiebt ihn in eines der Zelte. Hier stinkt es nach fauligem Fleisch und geronnenem Blut. Amputierte Gliedmaßen ragen aus Eimern heraus und ziehen Fliegen an. Von Sterilität keine Spur. Not ist hier ein Euphemismus. Er kennt die Bilder, er kennt die Gerüche. Jemand wirft ihm Gummihandschuhe zu, die in Deutschland seit zwanzig Jahren nicht mehr verwendet werden, oder die nach hier verkauft wurden.

      Ehe er sich’s versieht, steht er an einem der provisorischen Operationstische und assistiert einem Kollegen bei der Teilentfernung eines Dickdarmes. Feldkamp ist Neurochirurg. Bauchchirurgie ist wie Starkstromtechnik im Vergleich zur filigranen Schwachstromtechnik der Neurochirurgie. Doch Feldkamp erinnert sich wieder an seine Ausbildung. Im Nu skelettiert er die Gefäße des Mesenteriums, sodass der Kollege dieses gefahrenlos durchtrennen kann. Plötzlich ragt ihnen etwas Spitzes entgegen. Dem Mann ist ein schrapnellähnlicher Gegenstand in den Bauch gedrungen.

      Später operiert Feldkamp eine Halsschlagader und einen offenen Knochenbruch. Er bemerkt nicht, dass es Nacht und wieder Morgen geworden ist. Er hat vierzehn Stunden lang operiert, ohne das Vergehen der Zeit zu bemerken. Man muss ihn vom OP-Tisch wegziehen, weil Zach es befohlen hat.

      Wie kann ich mich jetzt noch um deutsche Luxuspatienten kümmern, wo sich hier das Leid bergeweise stapelt?, denkt Feldkamp.

      Man schleppt ihn in Zachs Hütte, wo ein riesiges Festmahl aufgetischt wurde.

      Nelly van Eid schiebt sich vor den Schrecken, den er hier sieht. Mit einem Mal fühlt er das Alter. Damals war sie eine sechsjährige Göre mit einem russischen Akzent, hart wie Zwieback. Jetzt ist sie Abteilungsleiterin beim BND! Unfassbar! Er lacht

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