Mit blossen Händen. Wolf-Rainer Seemann

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Mit blossen Händen - Wolf-Rainer Seemann

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steht neben Nelly van Eid. Beide verfolgen heftig atmend das Geschehen.

      „Das hat doch keinen Zweck!“, stöhnt Nikodem. „Das Gebirgsmassiv ist viel zu dick. Da kommt nicht einmal eine Atombombe durch!“

      „Wait a moment!“, sagt Larry Newman mit hartem Lachen.

      Wenig später sieht man an den Bildrändern, wie kleine Seitenflügel des Flugkörpers aufklappen. Er scheint auf der Stelle zu schweben. Im Inneren wird das Ortssignal berechnet, das von der Drohne stammt. Urplötzlich wacht das zögernde Kleingeschoss auf. Es schießt nach vorn. Sucht sich die einprogrammierte Lücke im Berg. Rast über Menschen hinweg, deren Erstaunen man nur ahnen kann. Hält auf eine getarnte Bergöffnung zu und stößt in sie hinein und – das Monitorbild wird weiß.

      ***

      Ein schriller Pfeifton unterbricht Zach und General Mokaddam. Mohammadi schreit ins Funkgerät.

      „Ein Kleinflugzeug!“

      „Unseres?“

      „Keine Ahnung. Eine Drohne vielleicht. Scheint mit dem Mist da zusammenzuhängen!“, ruft er und macht eine hilflose Rundumbewegung. In den Pulk der Mitarbeiter kommt Bewegung. Der ungewohnte Pfeifton ängstigt sie.

      „Abschießen! Und unser Held soll die Kugel retten!“, befiehlt Mokaddam militärisch knapp und deutet auf Zach, der sogleich mit wehendem Kaftan nach hinten eilt.

      Der Lärm wird infernalisch. Die Zentrifugenhülsen scheinen einen eigenwilligen Bauchtanz zu beginnen. Mokaddams Halsvenen schwellen an. Er hält die Luft an und brüllt dann gegen den Lärm an, als könne er damit die Ordnung wieder herstellen. Und tatsächlich, für einen Moment fügt sich das zerstörerische Rütteln seinem Befehl.

      Dann scheint die Luft nach außen gesaugt zu werden. Gleichzeitig explodieren im Abstand von Millisekunden fünfzehntausend Zentrifugen, als stünde irgendwo an der Seite eine unsichtbare Artilleriebatterie, die treffsicher eine Zentrifuge nach der anderen vernichtet. Metallsplitter wirbeln durch die Luft. Flüchtende Menschen werden von den scharfkantigen Splittern durchbohrt, Steine lockern sich, fallen nach unten, krachen auf die Zentrifugen und potenzieren das Zerstörungswerk. General Mokaddams letzter Blick gilt dem monumentalen Steinbrocken, der wie ein Meteorit aus den Anfängen des Universums auf ihn fällt.

      Der Schacht zur Kugel wird verschüttet und Zach von den Füßen gerissen. Steine fallen auf ihn, quetschen sein Gesicht, seine Hände. Doch er kann noch atmen. Die Stahltüre zur Kugel hält stand. Gut! Er drückt auf den Türöffner. Er will hinein, hinein und Schutz suchen vor dem Inferno. Langsam, viel zu langsam öffnet sich die Panzertüre.

      Zach kriecht zur Öffnung. Schneller! Schneller! Steine prasseln um ihn herum auf den Fliesenboden. Kacheln springen hoch, zerschneiden mit scharfen Kanten Zachs Rücken. Auf den Ellenbogen zieht er sich aus den Steintrümmern heraus und dem stählernen Raum entgegen. Darin, auf einem Podest in der Mitte, die fußballgroße Kugel, umgeben von indirekt beleuchtetem Stahl. Sieht aus wie der heilige Gral in einer Vitrine aus Panzerglas. Unmittelbar auf der Oberkante der Panzertüre zerspringt ein riesiger Steinbrocken in zwei Hälften, die eine Hälfte kracht zersplitternd in den Stahlraum, die andere fällt ungebremst auf Zachs Genick.

      ***

      Sofort schaltet das Bild auf die Bordkamera der Drohne um. Von oben sieht Nelly van Eid, wie sich der Tunneleingang leicht anhebt und wieder zusammenfällt. Eine Staubwolke markiert den Ort der Katastrophe.

      „Boden-Luft im Anmarsch – eins, zwei … fünf!“

      „Was soll das?“, hört man Lester schreien.

      „Drohne ist erfasst! Sie haben uns …“

      „Ablenkwaffen, los, los, los!“

      „Ablenkwaffen abgeschossen. Nur drei folgen ihnen … Shit! Shit! Shit!“

      Die Monitore werden weiß und die hämmernden Schreie zu einem elektronischen Brummen in der Stille.

      ***

      Dr. Harry Feldkamp durchpflügt seinen Operationssaal mit breiter Brust in der Manier eines Schlachtschiffes. Das ist sein üblicher Auftritt, den er vor schwierigen Operationen so stimulierend findet. Doch während der Operation ist er so sorgfältig wie ein Minensuchboot.

      Die Welt um ihn herum steht still, als er mit einer gebogenen Kornzange die Drainage in den winzigen Subduralraum der kindlichen Halswirbelsäule legt. Der Abszess kann jetzt abfließen, das Halsmark ist entlastet, das Kind gerettet. Doch er wird sich den Vorwürfen der Geschäftsführung stellen müssen. Einmal mehr hat er an einem Flüchtlingskind eine schweineteure Operation ohne vorherige Kostenabklärung vorgenommen.

      Nur langsam dringt das aufgeregte Flüstern und Nesteln um ihn herum in sein Bewusstsein. Das Flüstern wird zu Stimmengewirr mit Clogs, die auf dem Fliesenboden klappern.

      „Herr Doktor, entschuldigen Sie, aber da draußen steht ein Mann, der Sie unbedingt sofort sprechen will. Entschuldigen Sie, aber ich kann …“

      Feldkamp überprüft noch einmal die Funktion der Drainage und nickt seinem Oberarzt zu, die Halswunde schichtweise zu verschließen. Er fährt mit dem Unterarm über seine überanstrengten Augen und fragt:

      „Ich habe Sie nicht richtig verstanden. Was …“

      Feldkamp wird von einem unverschämten Hämmern an der OP-Türe unterbrochen. Durch das Fenster hindurch sieht er ein wütendes Gesicht und eine Hand, die ihn auffordert, endlich nach draußen zu kommen.

      „Wenn es um Geld geht, ist die Verwaltung schnell wie der Wind“, nickt er der OP-Schwester zu und sagt mehr zu sich selbst: „Folge in der Medizin dem Geld und du stößt auf Verantwortungslosigkeit …“

      Doch es ist niemand von der Verwaltung – es ist Thor.

      Als Feldkamp mit blutbespritztem OP-Mantel vor ihm steht, ist sogar der Mann, der mit vier Schüssen fünf Männer töten kann, für einen Moment beeindruckt.

      „Du kennst mich noch?“, fragt Thor mit deutlichem norwegischem Akzent. Im intensiven Blau seiner Augen scheint sich sein grüner OP-Mantel widerzuspiegeln und eine andere Farbe anzunehmen, findet Feldkamp.

      „Du kannst immer noch nicht richtig Deutsch?“, stellt Feldkamp fest.

      „Kannst du Norwegisch?“

      Nein, in den achtundzwanzig Jahren seit ihrem letzten Zusammentreffen hat er kein Norwegisch gelernt. Damals waren sie beide etwa neunzehn Jahre alt. Feldkamp befreit sich von der OP‑Kleidung und zieht den weißen Kittel über sein verschwitztes Unterhemd. Dann wäscht er seine Hände, um den Handschuhgeruch loszuwerden. Merkwürdig, Feldkamp hat inzwischen eine anerkannte Position in der Gesellschaft errungen, dennoch fürchtet er sich immer noch vor Thor. Selbst hier, am Rande des sterilsten Ortes der Zivilisation, trägt der Kerl einen Pistolenhalfter unter der linken Schulter, wie Feldkamp unschwer an der Ausbuchtung feststellen kann.

      „Die Israelis haben Fordo zerbombt und Wolfgang Zach ist schwer verletzt. Du musst ihm helfen.“

      Das Wasser, das über Feldkamps Hände läuft, wird immer wärmer, doch er bemerkt es nicht.

      Zach!

      In einem Nu fühlt

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