Körpergrenzen. Joana Goede

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Körpergrenzen - Joana Goede

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hinderten, Dinge zu tun, die für andere Menschen selbstverständlich und kein Problem waren. Gern hätte sie sich überwunden und wäre mitgefahren.

       Es fehlte ihr der Mut.

      Kampf

      Es hätte vielleicht noch andere Wege gegeben.

      Doch Niklas war zu müde, um über Alternativen nachzudenken. Gähnend stapfte er durch den Schnee, seine Stiefel hinterließen tiefe Abdrücke darin und das Vorwärtskommen erschien ihm unfassbar mühsam.

      Der zurückzulegende Weg war weit. Und außerdem ziemlich zugeschneit, so dass er an einigen Stellen kaum zu erkennen war. Wenn überhaupt. Da der Abend bereits hereinbrach und das Licht schlechter wurde, stieg eine leichte Nervosität in Niklas auf, die ihn jedoch nicht zum Beschleunigen seiner Schritte veranlassen konnte. Im Gegenteil. Er hatte eher den Eindruck, dass sie ihn lähmte, ihm zusätzlich Kraft raubte, die er zum Gehen gebraucht hätte.

      Noch drei Schritte tat er, dann blieb er plötzlich stehen. Starrte nach vorn, warf einen prüfenden Blick über die Schulter. Er war umgeben von zugeschneiten Feldern. In keiner Richtung war irgendein Haus zu sehen oder ein anderer Anhaltspunkt, der die Orientierung erleichtert hätte. Die Luft wirkte genauso grau-weißlich wie der Himmel und die Erde, alles verschmolz miteinander zu einer kalten, abweisenden Masse.

      Niklas fühlte sich verloren.

      Er wünschte sich, dass er ein Licht mitgenommen hätte. Vielleicht eine Taschenlampe. Dunkel war es zwar noch nicht, aber er wusste, die Dunkelkeit konnte schnell hereinbrechen.

      Während er stumm und erstarrt verweilte, in die Luft glotzend, als wenn sie ihm bei der Wegfindung hätte helfen können, landete eine einzelne, verträumte Schneeflocke unauffällig auf seiner kalten Stirn. Dort ruhte sie einen Moment, bis Niklas sie ärgerlich wegwischte und einen fassungslosen Blick zum einheitlichen Himmel empor richtete, der sagen wollte: Nun schick mir nicht auch noch frischen Schnee!

      Er wusste genau, dass es unmöglich wäre, den Weg im Dunkeln zu finden, wenn es dabei schneite. Außerdem würde der neue Schnee seine Fußspuren unter sich begraben, so dass ihm auch der Rückweg bei Tageslicht abgeschnitten wäre. Niklas' Hirn arbeitete angestrengt. Es wog Möglichkeiten und Unmöglichkeiten ab. War sich unsicher, ob Niklas weitergehen oder aufgeben und es am nächsten Tag wieder versuchen sollte. Besser ausgerüstet. Vorbereitet. Mit reichlich Zeit bis zur Dämmerung.

      Schon begann er, mitten in der Unentschlossenheit, sich selbst zu beschimpfen, wie er so außerordentlich dumm hatte sein können, so spät am Tag einen Weg wie diesen bei solchem Wetter gehen zu wollen. Was hatte ihn denn dazu getrieben? Doch wohl nur die verrückten Gespräche seiner Geschwister und Eltern, die wirren Reden seines Bruders Konrad und seiner Frau, die Niklas in einer Stärke quälen konnten, der er einfach nichts entgegenzusetzen hatte. Dieses Kaffeetrinken und Kuchenessen hatte ihn hinausgetrieben, hatte ihn fliehen lassen und nun stand er hier. Mitten im Nichts. Auf einem Wanderweg, den er so oft schon gegangen war, allerdings nie zuvor allein bei Schnee. Und, so sagte er sich, womöglich bist du schon lange nicht mehr auf diesem Wanderweg.

      Wer weiß, wo du bist?

      Er fror. Das Stehen tat ihm nicht gut, er musste sich entscheiden. Winzige, in der grau-weißen Masse untergehende Schneeflocken schwebten unaufhaltsam zur Erde. Du wirst nicht mehr zurückfinden, wenn du länger wartest, sagte Niklas zu sich. Und war sich dabei nicht sicher, ob ihm überhaupt daran gelegen war, wieder zurückzufinden. Wollte er sich wieder mit an den Tisch setzen? Pünktlich zum Abendessen? Und sich wieder den Unsinn anhören, den die redewütigen Mitglieder seiner Familie von sich gaben?

      Niklas war das Gequatsche leid. So sehr, dass er nun entschlossen los lief. Nicht zurück, wo ihm die tiefen Spuren den Weg gewiesen hätten, sondern nach vorn. Das Risiko war ihm bewusst. Fakt war eben, dass ihm selbst die Gefahr, sich zu verirren und eine Nacht in dieser Kälte draußen zubringen zu müssen, lieber war, als ein weiterer Abend im Kreis seiner Angehörigen.

      Er genoss die Stille der verschneiten Welt. Wie in Watte gepackt kam er sich vor.

      Bei seinen Eltern, da gab es keine Stille.

      Da gab es keinen Moment des Schweigens.

      Permanent wurde gesprochen, diskutiert, erklärt, gestritten. Die Situation, dass niemand etwas sagte, trat nur dann ein, wenn alle schliefen. Niklas fehlte die Geduld, um darauf zu warten, dass alle ins Bett gingen. Ihm fehlte überhaupt die Geduld für egal was. Seine Nerven waren gereizt, er war angespannt, er war verärgert und er hatte die Nase voll.

      In dieser Stimmung war er relativ planlos hinaus in den Schnee gestürmt, hatte einen ihm bekannten Weg eingeschlagen, der zunächst durch ein Waldstück führte, bevor er sich in weiten Feldern verlor. Das Bekannte war schnell hinter ihm geblieben, er begab sich auf unbekanntes Terrain, denn in diesem Schnee war nun wirklich nichts mehr zu erkennen. Alles war ihm fremd, als wäre er nie hier gewesen. Er hatte es für zwecklos befunden, sich zu beeilen. Auch eine Uhr hatte er nicht dabei, so war es schwer für ihn festzustellen, wie lange genau er bereits unterwegs war.

      Er schätzte, dass es an die drei Stunden sein mussten. Drei Stunden. In denen konnte er weit gekommen sein.

      Es ist unmöglich, sagte er zu sich. Unmöglich, wieder zurückzufinden.

      Stattdessen begann er Ausschau nach einer Art Unterstand zu halten, nach etwas, das ihm einen gewissen Schutz vor dem Wetter hätte bieten können. Etwas, wo sich ein frierender Mensch in einer Winternacht zumindest ein wenig verkriechen konnte, bis zum Sonnenaufgang, der hoffentlich etwas Klarheit mit sich bringen würde.

      Niklas sah weit und breit nichts. Keine dichte Baumgruppe, kein kleines Holzhäuschen, in dem müde Wanderer rasten konnten. Er war sich sicher, dass er sich auf keinem Weg mehr befinden konnte. Die geschlossene Schneedecke ließ allerdings nicht zu, dass er einen Beweis dafür hätte entdecken können.

      Seine Füße wurden kalt. Dass dies kein gutes Zeichen war, konnte er sich denken. Außerdem fühlte sein Körper sich müde an, die Beine wurden schwer. Um ihn herum brach die Dunkelheit immer mehr durch, die winzigen Schneeflocken wurden größer. Um Niklas herum wurde es dunkelgrau. In diesem Dunkelgrau fühlte er sich verloren. Ein Blick zurück zeigte ihm, dass er den Weg, den er gekommen war, nun endgültig nicht mehr wiederfinden konnte.

      Es plagte ihn keine Wehmut, keine Angst.

      Nur Kälte.

      Diese mit der Dunkelheit über ihn kommende, nächtliche Kälte schien sich mit jedem Schritt, den er tat, zu verstärken. Er wusste, es musste Einbildung sein. Eventuell hervorgerufen durch die körperliche Erschöpfung. Er sehnte sich nach Ruhe. Und doch fürchtete er, er könnte bei einer kurzen Rast einschlafen und erfrieren. So kämpfte er sich weiter, um ihn herum färbte sich alles zusehends schwarz. Bald, sagte Niklas zu sich, wirst du nicht mal mehr sehen können, wohin du den nächsten Fuß setzt.

      Es dauerte nicht lang, dann umgab ihn die vollendete Schwärze. Der bewölkte Himmel enthielt keinen Schimmer Mondlicht, auch kein einziger Stern ließ sich blicken. Nur die Schneeflocken stachen eiskalt in Niklas' Gesicht, brannten in seinen Augen, bewiesen ihm, dass es pausenlos schneite.

      Ihm fiel ein, wie sehr er den Winter als Kind gehasst hatte. Diese dunklen Nächte, den kalten Wind, die vereisten Fensterscheiben, die Schneespaziergänge mit seinen Eltern. Er hatte anziehen können, was er wollte, es war immer zu kalt gewesen. Sein Vater hatte ihm gesagt, er solle sich nicht so anstellen, seine Mutter hatte ihm noch eine zweite Mütze

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