Körpergrenzen. Joana Goede

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Körpergrenzen - Joana Goede

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durch den hohen Schnee hinterherpurzelnd.

      Daran dachte er nun und das alte elende Gefühl von damals stieg wieder in ihm auf. Gezwungen, frierend immer weiter zu gehen. Die Länge des bevorstehenden Weges nicht einschätzen zu können.

      Dieses Mal hatte seine Jacke keine Kapuze, seine Mutter hatte ihm keine zweite Mütze aufgesetzt. Und er war auf sich allein gestellt, hatte niemanden, der ihm den Weg wies.

      Niklas fühlte sich halbtot, halb erfroren, als er irgendwo rechts einen leichten Lichtschimmer erblickte. Offenbar war er in eine waldigere Gegend gekommen, denn er musste einigen Bäumen ausweichen, als er dem Schimmer folgte. Dabei stolperte er mehrfach über Wurzeln oder heruntergefallene Äste, das ließ sich unmöglich erkennen. Wie eine Ewigkeit kam ihm die Entfernung zu dem Licht vor, das nur minimal näher zu rücken schien. Er fragte sich schon, ob es sich vielleicht selbst bewegte oder ob es eine Halluzination war. Ein kleines gelbes Licht, das kaum größer wurde. Womöglich eine Art Irrlicht.

      Während er ihm folgte, da er sonst kein Ziel hatte, erinnerte er sich, dass ihn diese Situationen bei seinen Eltern schon häufig in die Flucht geschlagen hatten. Menschen, die durcheinandersprachen, ein Fernseher, der nebenher lief, Kindergeschrei, Töpfeklappern. Das alles verursachte Kopfschmerzen bei Niklas und den ausgeprägten Wunsch, zu verschwinden. Irgendwohin, wo tatsächlich niemand war.

      Nun, im dunklen Wald, erschien ihm das Licht, dem er folgte, schon bald als zu hell. Er konnte kaum mehr direkt hineinsehen, es verursachte ein unangenehmes Ziehen auf den Netzhäuten, zum Teil stach es sogar mit einer Brutalität hinein, die man einem so schwachen Licht nicht hätte zutrauen wollen. Niklas musste sich nach allen Regeln der Kunst zusammenreißen, musste sich zwingen, weiter auf das sich nur wenig vergrößernde Licht zuzugehen und es auszuhalten, obwohl es ihn quälte. Die Vernunft war mächtig genug in ihm, um ihn voranzutreiben, um ihm fortwährend in die Ohren zu flüstern: Nur das Licht kann dich retten, ohne das Licht wirst du sterben.

      Zum Sterben war Niklas noch nicht vollständig bereit. Der Lebenswille pochte in ihm, er hielt ihn aufrecht, er schob ihn vorwärts ins Ungewisse. Denn alles konnte nur besser sein als das, was Niklas hinter sich gelassen hatte.

      In seiner Überempfindlichkeit spürte er die Kälte seine Beine bis zu den Knien hinaufkriechen, er fühlte sie sich in seinen Kniekehlen einnisten und konnte die eingefrorenen Gelenke bald nur noch mit großer Mühe beugen. Wobei er nicht sicher sein konnte, ob die Ursache für diese Unbeweglichkeit wirklich in einer Überempfindlichkeit zu suchen war oder ob es nicht doch die reale Kälte der Winternacht war, die ihn marterte. Zwar brannten die Schneeflocken nicht mehr so sehr auf seiner Haut, der Wald musste dicht genug sein, um als Schutz zu dienen, dafür erschlaffte sein Körper von Schritt zu Schritt mehr.

      Das Ziel schien unerreichbar.

      Es war unerreichbar.

      In seinen Ohren begann es zu rauschen, das Rauschen wurde lauter, es folgte eine leere Schwärze, eine innere Nacht. Danach kam eine unerträgliche Helligkeit. Und Niklas begriff: das Licht, zu dem er nicht hatte kommen können, war zu ihm gekommen.

      Gegen

      Konrad, am Tisch mit seiner Frau Leonie sitzend, sagte plötzlich mitten in ein Gespräch über den neuen Wohnzimmerteppich seiner Eltern hinein: „Ich sorge mich um ihn.“

      „Um Niklas?“, fragte Leonie und hatte offenbar kein ausgeprägtes Interesse an diesem Themenwechsel. Der ruhige, jüngere Bruder ihres Mannes war ihr vom ersten Sehen an suspekt gewesen. Seine Augen waren zu groß, fand sie, außerdem wirkte er ständig unzufrieden, ohne etwas dazu zu sagen. Überhaupt sprach er ja kaum. Sobald die kleine Susi, Konrads und Leonies niedliche Tochter, den Raum betrat, verließ Niklas ihn mit ziemlicher Sicherheit. Und das, obwohl sämtliche Familienmitglieder Susi für ein entzückendes, süßes, liebenswertes Kind hielten. Gerade mal vier Jahre alt war sie. Aber Niklas hatte sie in diesen vier Jahren kaum einmal angesehen. Leonie hielt das für ein unmögliches Verhalten, immerhin war Susi Niklas' Nichte. Niklas allerdings tat so, als sei sie etwas ganz Unaushaltbares.

      „Ist doch egal, dass er weg ist. Er sagt ja eh nichts. Guckt immer nur böse aus der Ecke dahinten herüber“, fuhr Leonie fort, als Konrad ihr nur einen ungehaltenen Blick zugeworfen hatte.

      Sie waren allein im Wohnzimmer. Konrads Eltern waren mit Susi oben im Spielzimmer, zusammen mit Konrads Schwester Caroline und deren Sohn Mike, sechsjährig. Mikes Vater hatte es vorgezogen, der Familienveranstaltung fernzubleiben. Man munkelte etwas von Scheidung. Caroline hatte das bisher allerdings nicht bestätigt. Baby Krista schlief im Kinderwagen neben der warmen Heizung, kaum einen Meter von Leonie entfernt, die ihr Neues wie ihren Augapfel behütete. Niklas hatte Krista vor zwei Tagen das erste Mal gesehen und ein derart angewidertes Gesicht gemacht, dass selbst Konrad zu seinem Bruder gesagt hatte: „Nun freu dich doch mal etwas für uns!“

      Niklas hatte erwidert: „Weshalb sollte ich mich freuen? Noch ein Kind? Reicht es nicht langsam damit?“

      Danach hatten sich beide Brüder den ganzen restlichen Tag gemieden. Wie bei allen Familienveranstaltungen war die Stimmung eher schlecht.

      Trotzdem sorgte sich Konrad nun um seinen jüngeren Bruder. Immerhin war es dunkel geworden und draußen schneite es wieder. Niklas war nicht gerade unempfindlich, was Kälte betraf. Und Konrad schaute nun schon ständig auf die Uhr. Auf der Treppe hörte er bereits die Schritte seiner Mutter und das Gekicher von Caroline. Beide kamen vermutlich herunter, um sich um das Abendessen zu kümmern.

      „Ruf ihn eben an“, schlug Leonie vor, als sie sah, wie unruhig Konrad wurde. Er schüttelte den Kopf und antwortete zerknirscht: „Sein Handy liegt da drüben. Keine Chance, ihn zu finden. Wirklich nicht. Wenn da draußen was passiert ist, dann können wir nichts machen.“

      „Es wird schon nichts sein.“

      Leonie konnte Konrad nicht beruhigen. Niklas kam nicht zum Abendessen und auch nicht währenddessen. Konrad warf sorgenvolle Blicke aus dem dunklen Fenster, dann wieder auf seine Uhr und seufzte. Auch Caroline bekam ein ernstes Gesicht, sie und Konrad blickten sich immer öfter vielsagend an.

      Es war gegen 19.00 Uhr und die Familie war soeben im Nachtisch begriffen, da klingelte Niklas' Handy und alle zuckten zusammen. Leonie, die Baby Krista gerade auf dem Sofa stillte, brummte, als Konrad direkt aufsprang: „Dein Bruder wird sich wohl kaum selbst anrufen.“

      Niemand am Familientisch kommentierte das. Das kam selten vor und sprach für große Anspannung. Denn das alljährliche Jahrestreffen, das Tradition in der Familie war und sich über vier Tage, beginnend am Neujahrstag, zog, war vor allem durch permanentes Reden gekennzeichnet. Im Grunde sprach immer jemand. Nur jetzt waren plötzlich alle still.

      Konrad ging zu Niklas' Handy und starrte darauf. Dort blinkte der Name Minna auf.

      Konrad sagte: „Eine Minna ist es.“

      Caroline rief sofort: „Seine Freundin heißt so, geh doch dran. Vielleicht ist er bei ihr.“

      Konrad erwiderte: „Unmöglich, wie soll das zu Fuß gehen?“

      Trotzdem nahm er nach kurzem Zögern ab und die Familie hielt den Atem an. Er sagte allerdings nur: „Nein, hier ist Konrad, sein Bruder. Ja. Er ist nicht hier. Draußen irgendwo. Spazieren. Nein, ich weiß nicht, wann er wiederkommt. Ehrlich gesagt bin ich ein wenig beunruhigt. Er ist schon länger unterwegs und das bei dem Wetter. Ja, wenn Sie möchten, gern. Dann bis später.“

      Er

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