Der Ponyferrari. Roger Aeschbacher
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Als Mike, der Kleinste von Kais gemeiner Bande, vom keifenden Hausmeister aufgeschreckt wurde, stoppte er sein Rad abrupt. Prompt fuhren die anderen Buben einer nach dem anderen ineinander. Blech schlug auf Blech und es schepperte und knallte wie bei einem besonders heftigen Sommergewitter. Den Donner zum diesem metallischen Gewitter lieferte Pauli. Er fuchtelte wild mit seinen Armen und rumpelte: „Folterknechte … Supergauner … Terroristen!“ Beinahe wäre ihm sein Stumpen aus dem Mund gefallen.
Kai und seine Unterhunde lagen wie umgeworfene Kegel am Boden, doch sie hatten keine Zeit sich über irgendwelche Schürfungen oder blaue Flecken Gedanken zu machen. Momentan war der wie ein gewaltiger Tornado näher brausende Pauli ihre größte Sorge. Sie schnappten sich ihre Räder und stoben wie die Fliegen in alle Richtungen davon.
Kai rief Sigi mit verächtlich schief gezogenem Mund noch etwas zu. Sigi verstand nicht genau, was der gedrungene Anführer der gemeinsten Bande des Schulhauses knirschte, aber es tönte verdächtig nach „… Rache nehmen …“ Dann warf ihm Kai noch einen Satz zu und den verstand Sigi gut. Kai zischte: „Dich mach’ ich fertig!“.
Sigi war das ziemlich egal. Vor diesem dummen Grobian hatte er keine Angst. Klar. Der Anführer der Bande war mehr als ein Jahr älter als er selbst. Kai hatte kurzgeschorene rostrote Haare. Seine Schultern waren breit, die Muskeln durchtrainiert und standen wie bei einer Bulldogge hervor. Seinen Kopf, der ihm stiernackig auf den Schultern saß, hielt er immer tief. Seine Augen saßen eng und drohend beieinander. Sigi war sich durchaus bewusst, dass dieser streitsüchtige Kerl ihn jederzeit ohne Probleme verdreschen könnte. Trotzdem machte ihm die brutale Schlägervisage von Kai Sigi kaum Eindruck, Sigi befürchtete nur, dass er Milena verpassen könnte. Nur das jagte ihm einen echten Schrecken ein. Schnell blickte er auf die große Schulhausuhr. Der große Zeiger war bereits am kleinen vorbeigehuscht.
12 Uhr 04!
Der Junge verlor keine Zeit. Er raste sofort Richtung Fahrradunterstände los, die etwa 100 Meter entfernt waren. Wenn Sigis Zeit bei den olympischen Spielen gestoppt worden wäre, dann hätte Sigi eine Goldmedaille im Sprint gewonnen. Aber reichte ein neuer Weltrekord im Sprint, um Milena noch zu erwischen?
II
Als Sigi keuchend um die Ecke der Turnhalle bog, war der Parkplatz bereits leer. Zu spät! Milena war schon weg. Sigis eigenes Rennrad mit dem tiefen Lenker stand fast alleine da. Daneben befand sich nur noch eine alte Fahrradleiche ohne Klingel. Die war schon vor Paulis Zeiten hier vergessen worden. Dieser kaputte und verrostete Drahtesel stand krumm in einem verbogenen Ständer. Die Bremskabel waren abgerissen und ragten in die Luft. Sie sahen aus wie ungekochte Spaghetti, die aus der Pfanne schauen. Die rissigen Pneus waren flach gedrückt, der Sattel von Vögeln aufgepickt worden. Alles Verwertbare war von diesem Fahrrad vor langer Zeit abgeschraubt worden. Einzig die verrostete Kette hatte keiner gewollt. Die hing ausgehängt und schlaff von den Zahnkränzen herunter und schimmerte in fleckigem Rot in der hohen Sonne.
Sigi schaute dieses verkrüppelte Rad mitleidig an. Er fühlte sich ebenso kaputt und traurig. Milena war schon weg! Was hätte es Schlimmeres geben können? Dass seine Mitschülerin bereits losgefahren war, verwunderte ihn aber nicht. Er verstand seine heimliche Freundin, denn Milena hätte unmöglich auf ihn warten können. Sonst hätte sie ja verraten, dass sie ihn ganz gerne mochte.
Der schlaksige Junge ließ die Schulten hängen und senkte den Kopf. So enttäuscht wie er war, nahm er gar nicht wahr, dass jemand nach ihm rief.
Man hörte es auch kaum, denn es kam von jenseits der Bahngeleise, die neben dem Fahrradunterstand lagen. Das war die Linie von Basel nach Olten, die nach einer Abzweigung nach Zürich und nach Bern führte. „Sigi!“, schallte eine feine Mädchenstimme herüber. „Hoi, Sigi!“
Der Junge, dem das Rufen galt, stand wie ein zusammengestauchtes Fragezeichen auf dem Parkplatz und hörte nichts. Darum machte das Mädchen, das von jenseits der Gleise herüberrief, mit winkendem Arm auf sich aufmerksam. Endlich merkte es Sigi. Er sah über die Eisenbahnlinie und wen erblickte er? Es war Milena. Sie stand auf den Zehenspitzen, hielt mit der linken Hand ihr Fahrrad und winkte mit der rechten Hand, um auf sich aufmerksam zu machen.
Milena war ein hübsches Mädchen. Sie hatte lange schwarze Haare, die nur ganz leicht gewellt waren. Das Mädchen band sie mit einem Gummizug zu einem Rossschwanz zusammen, trotzdem fiel ihr eine übergroße Locke mächtig über die Stirne. Milenas Augen waren kastanienbraun. Ihr Mund lächelte so oft am Tag wie es auf der ganzen Welt Chinesen gibt.
Milena trug wie immer einen bunten Rock, den ihre Mutter selbst genäht hatte. Als Leibchen trug sie ein lila T-Shirt mit dem gestickten Bild eines kleinen rosaroten Ponys drauf. Auch das hatte ihre Mutter für sie geschneidert. Das Pony blickte mit großen treuherzigen Augen in die Welt. Seine prächtige Mähne war so perfekt gestickt, dass man meinte, sie würde im Wind wehen.
Sofort winkte Sigi seiner Schulfreundin zurück. Jetzt lachte auch er. Sein Herz begann zu rasen. Er sprang zu seinem Rad, öffnete das Schloss, riss das Fahrrad aus dem Ständer und schwang sich auf den Sattel. Er raste zum Eingang der Unterführung, die ihn unter der Bahnlinie hindurch auf Milenas Seite bringen würde. Ohne abzusteigen fuhr er direkt nach unten. Natürlich hätte Sigi diese Unterführung nicht befahren dürfen. Große Fahrverbotsschilder erinnerten daran, denn es war nicht ganz ungefährlich. In die Unterführung führten Treppen. Darauf waren zwei Spuren angebracht, damit junge Mütter ihre Kinderwagen leichter über die steilen Treppen nach oben bugsieren konnten. Über eine dieser nur etwa 20 Zentimeter breiten Spuren sauste Sigi nun hinunter. Sigi hatte keine Angst und das Befahren einer so winzigen Spur, die im oberen Teil sogar noch in einer schwierig zu meisternden leichten Kurve nach unten führte, war für Sigi Pipifax. Auf der anderen Seite schoss er wieder nach oben und war endlich bei seiner Freundin - also Mitschülerin, wie Sigi sie vor seinen Kumpels benennen würde.
Sigi schaute Milena an.
Milena schaute Sigi an.
Keiner von beiden sprach etwas. Sigi wollte eine Bemerkung machen, aber er getraute sich nicht. Also schaute er irgendwo in die Weite und tat, als wäre es selbstverständlich, dass man auf ihn wartete. Insgeheim pochte sein Herz bis zum Hals. Er hatte wohl gemerkte, dass weit und breit kein Schüler mehr zu sehen war. Milena war also tatsächlich die Letzte gewesen, die nach Hause fuhr. Sie musste also auf ihn gewartet haben. Auf ihn! Sigi Sanftic. Dem Sigi, von dem ein paar Mädchen sagten, dass er doof sei, mit seinem krausen kastanienbraunen Haar, das ihm wie das Fell eines Maltesers über die Augen hing. Das nahm Sigi nicht so ernst. Sollten diese Zicken doch nur reden. An seine Haare würde er noch lange keine Schere lassen.
Sigi war für sein Alter richtig sportlich und hatte dadurch ein paar Muskeln mehr als andere Buben, die nur vor dem Computer saßen. Natürlich waren deshalb auch seine Gesässmuskeln eine ganze Spur ausgebildeter als bei anderen Jungen. Das kam vom vielen Fußballspielen. Muskeln waren das. Nur Muskeln! Trotzdem hatte ihm die hochnäsige Maria einmal „Sigi Saftig Entenhintern!“ nachgerufen. Das war, als sie besonders wütend auf Sigi gewesen war. Maria war nämlich auch heimlich in Sigi verliebt und beleidigte ihn nur, weil der ihre Annäherungsversuche überhaupt nicht wahrgenommen hatte. Prompt hatten die Freundinnen von Maria über ihren abwertenden Spruch gewiehert und gekichert und gegluckst und gepiepst. Nur Milena hatte das nicht getan. Milena hatte Sigi mit ihren Rehaugen angeschaut und ihm gesagt - also nicht mit Worten, sondern nur mit