Jahre mit Camilla. Helmut H. Schulz
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Als wir zu Hause ankamen, dunkelte es. Im Briefkasten steckte ein Telegramm, Camilla nahm es heraus.
«Für mich?», fragte ich.
Schweigend presste sie den gelben Umschlag an sich. Plötzlich, ehe ich sie daran hindern konnte, knüllte sie den Umschlag zusammen. Ihre Faust hielt das Papier umklammert. Ich ging hin, nahm ihre Hand und sah ihr in die Augen.
«Geben Sie mir das Telegramm», sagte ich.
Der Papierball glitt zu Boden. Ich hob ihn auf und öffnete ihn. Das Telegramm war von Rickweiler.
«Wann reist du ab?», fragte Camilla.
«Wahrscheinlich in ein paar Stunden.»
«Schade.» Mehr sagte sie nicht.
Wir aßen noch zusammen; tranken aber nicht mehr von dem schweren roten Wein. Zum Abschied wollte ich ausdrücken, dass ich es bedauerte, wegzumüssen, oder auch nicht bedauerte. Es war besser, allen Wirrnissen aus dem Weg zu gehen. Dann kam der Wagen. Mein Handkoffer war gepackt, die Aktentasche auch. Ich sah mich nicht um, als ich abfuhr.
Die Stille im Hause beruhigte. Und ich hatte Stille nötig nach einem Tag mit Camilla, einer sechsstündigen Autofahrt, einer Besprechung bei Rickweiler und seinem dünnen Tee. Auf meinem Schreibtisch befanden sich die beiden Lichtkegel der Arbeitslampe, Schreibpapier, Millimeterpapier und Rechenschieber, der glatte weiße Stab, das Klavier des Mathematikers.
Rickweiler hatte gesagt: Ich musste dich da oben wegholen. Ja, ich, weiß dein Blutdruck, aber ich brauche dich hier, wir müssen den Planvorschlag überarbeiten, er wurde zurückgewiesen.
Rickweiler hatte noch mehr gesagt, während er mir die Vorwürfe aufzählte, die ihm gemacht worden waren: uneffektive Planung, zu langsames Entwicklungstempo, zu geringe Berücksichtigung des Binnen- und Außenmarktes und dergleichen. Ich wusste, dass diese Kritik an unserer Arbeit stimmte. Rickweiler mochte ich von der ersten Stunde unserer Zusammenarbeit an.
Ich hatte die fantastische Vorstellung eines gedankenstrahlenden Rechners, der mit Lichtgeschwindigkeit Informationen verarbeitet. Ich dachte an integrierte, Schaltkreise, Hunderte Bauelemente auf einige Kubikmillimeter Silizium, und ich dachte an die bereits signalisierten bildlogischen Rechner. Der kühle weiße Stab zwang mich zur Konzentration auf meine Arbeit, aber die wunderbaren technischen Möglichkeiten zogen sich gerade bis an den Schreibtischrand zurück. Ich unterdrückte die kindliche Lust, eine Stunde lang nur für mich zu arbeiten. Rickweiler baut keine mikroelektronischen Elemente. Er versteht nur wenig davon. Rickweiler fing mit Radioröhren an und leitet den Teilbereich Dioden.
Es war halb zwei, als ich den Rechenstab auseinander schob. Einen Augenblick lang lauschte ich, ob der Soziologe nebenan noch schrieb. Ich war wütend entschlossen, ihm diesmal eine Szene zu machen, aber es war still. Vielleicht war es diese Stille, die mich noch einmal in das Traumreich des Unmöglichen zurück lockte oder eigentlich voran lockte. Versuchsweise wählte ich unter den Varianten die höchste aus, die nach meiner Kenntnis den gesamtwirtschaftlichen Vorgaben entsprochen hätte, für die aber unsere Produktionsbasis nicht ausreichte. Dann erst spielte ich die Varianten durch, die in unseren Möglichkeiten lagen. Das war typisch für mich, und ich glaube, es ist typisch für den Techniker, aber dieses Festhalten an bewährten Verfahren ist trotzdem kein bloßes Ausweichen. Der Kluge steigt nicht über den, Berg, er umgeht ihn, sagt ein russisches Sprichwort.
Zwei frische Pfeifen lagen auf dem Tisch, Tabak, gut ausgetrocknet, wie ich ihn gern rauche. Dazu trank ich einen teerartigen Aufguss aus Pulverkaffee und leichten, gut temperierten Weinbrand. Ich war durchaus nicht mehr erschöpft, im Gegenteil.
Ich arbeitete für Rickweiler. Es war seine Arbeit, die günstigste Variante durchzusetzen: Meine Arbeit war, ihm Varianten anzubieten. Ich mache den Plan nicht, ich analysiere und prognostiziere. Die volkswirtschaftlichen Kennziffern werden anderswo ermittelt.
Gegen fünf brühte ich mir Kaffee auf. Um halb acht rief Rickweiler aus dem Betrieb an, um acht ließ er mich abholen. Zusammen gingen wir, Rickweiler und ich, die Varianten durch. Ich war fertig. Ich hing auf dem Stuhl in Rickweilers Sitzungszimmer. Ihm war nichts anzumerken. Seine braune rissige Gesichtshaut war frisch, die Lippen waren fest und farblos. Ein bisschen Wärme leuchtete in seinen Augen. Wegen dieser Augen liebte ich Rickweiler.
Den Nachmittag arbeitete ich an Teilberechnungen, während Rickweiler mit den Produktionsleuten die Varianten beriet. Es war zwanzig Uhr, als er herauskam und mir ein Bündel Material auf den Tisch legte.
«Die mittlere Variante», sagte er in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ.
Ich wollte dennoch widersprechen. Ich hielt einen höheren Ansatz für denkbar und auch für dringend notwendig, aber Rickweiler schnitt mir das Wort ab.
«Wann kriegen wir die Feinplanung? Sag mir deine Termine! Rickweiler setzte sich, schraubte seinen großen altmodischen Füller auf und begann zu notieren, was ich ihm ansagte. Er schrieb mit seiner raschen, starken Handschrift. Es war gegen zweiundzwanzig Uhr, als wir vor dem Werktor standen.
«Ich bring dich nach Hause.»
Wir fuhren die Hermann-Duncker-Straße entlang. In den Geschäften brannte Licht, die Straßen waren menschenleer. Rickweiler schaltete wenig. Er war ein guter Fahrer, ein sicherer Fahrer, aber langsam. Wir passierten die Brücke in Karlshorst.
«Wie war denn dein Urlaub?», wollte er wissen.
«Zu kurz. »
Obwohl ich müde war, fand ich keine Ruhe. Irgendetwas war los mit mir. In bunter Reihe reproduzierte mein Gehirn Bilder, die ich früher gesehen hatte. Ich sah den Diodensaal, die bizarr nach außen gestülpten Gummihandschuhe, eine Folge des Gasdruckes, unter denen die Montagekästen stehen; ich sah die weiß bekittelten Frauen des Saales, die Ätzbäder und Lötgeräte und die Grundmaterialien in zwergenhaften Abmessungen. Wie ein stummer Film liefen die Bilder ab. Sie hatten etwas Sinnloses, Konfuses, sie schienen darauf zu warten, nach einem besseren Prinzip geordnet zu werden. Und wer konnte dieses bessere Prinzip finden? Rickweiler? Sewarth? Oder ein anderer?
Ein Bild aus meiner Studienzeit entstand. Der dozierende Professor war ein mittelgroßer Mann in zweireihigem Anzug mit großer gebundener Schleife. Sein Blick hakte irgendwo ein. Seine Stimme klang scharf und herausfordernd: Jedes atomare System hat ganz, bestimmte Energiewerte ... Das Labor, vollgestellt mit Geräten und Messapparaturen, war mein erster Arbeitsplatz. Ich sah mich am Mikroskop. Zum ersten Mal erschien das Bild einer Golddrahtdiode im Gesichtsfeld des Mikroskopes, ein Bild seltsamer, starrer Schönheit, die Oberfläche aufgelöst in zahllose bunte Punkte wie bei der Vergrößerung eines Rasterbildes. Scharlachrot leuchtete die eingeschmolzene Sinterglasperle. Warum scharlachrot? Ich entsann mich. Sie war einer hohen Temperatur ausgesetzt. In normaler Betrachtung erschien sie rosig-weiß.
Sewarth ist der einzige speziell ausgebildete Elektroniker im Bereich. Er ist jünger als ich, und er muss auch noch beweisen, was er kann. Sewarth ist groß und breitschultrig. Er treibt Sport, wie ich hörte. Er rudert. Seine Hände sind Maurerhände, Schlosserhände, wie Rickweilers Hände. Wie schafft er es, mit diesen Händen mikroskopische Abmessungen zu beherrschen?
Der Professor erläuterte: Erst im Prüffeldauslauf erfahren Sie die Wahrheit über ein elektronisches Bauelement.
Warum hat Rickweiler die mittlere Variante gewählt?
Rickweiler fing vor