Mein kleiner Verrat an der großen Sache. Dietrich Plückhahn

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Mein kleiner Verrat an der großen Sache - Dietrich Plückhahn

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durch den Grunewald streifen. Nach den Übungen lagen reichlich Patronenhülsen im Wald herum, die von Jungen in meinem Alter gern gesammelt wurden. Ich hatte davon einen ganzen Schuhkarton voll. Großen Eindruck machten auch die Kettenpanzer der US-Army, wenn sie von McNair in den Grunewald durch die Wohn- und Geschäftsstraßen donnerten und alle Gebäude in der Umgebung erzittern ließen. War der Lärm, den sie machten, auch ohrenbetäubend, so handelte es sich doch um Lärm der Westalliierten, der im Interesse der Sicherheit der Stadt also hinzunehmen war. Anders verhielt es sich mit den Schallmauerdurchbrüchen sowjetischer Düsenjäger. Die Sowjetunion fühlte sich regelmäßig provoziert, wenn Verfassungsorgane der Bundesrepublik in West-Berlin in Erscheinung traten. So war es unter anderem bei der Wahl des Bundespräsidenten, zu der die Bundesversammlung am 1. Juli 1964 in Berlin zusammentrat. Für die Sowjets war das ein willkommener Anlass, es mal wieder richtig knallen zu lassen. Unentwegt kreisten sowjetische Düsenjäger über den Westbezirken und durchbrachen, so oft es ging, die Schallmauer. Die Berliner Abendschau wusste, wenn ich mich richtig erinnere, von 123 Fensterscheiben zu berichten, die dabei zu Bruch gingen. Auch Schaufenster waren darunter.

      Im Großen und Ganzen war die Lage nach dem Mauerbau geregelt und überschaubar. Geglückte und gescheiterte Fluchtversuche von Ost nach West und die gelegentlichen Passierscheinvereinbarungen, aufgrund derer die West-Berliner zu Weihnachten ihre Lieben in der DDR besuchen durften, brachten den Inselstatus der Stadt nur kurzfristig wieder verstärkt zum Bewusstsein. Für mich hatte die erste Passierscheinausgabe vor den Weihnachtsferien 1963 den unerwarteten Vorteil, dass ein paar Schulstunden ausfielen (im Gegensatz zu allen bildungshungrigen Menschen freute ich mich bis zum Ende meiner Schulzeit immer über Unterrichtsausfälle). Die Schulräume wurden für die Abfertigung der zahlreichen Antragsteller gebraucht, die bis auf die Straße Schlange standen. Ansonsten war, von gelegentlichem Schusswaffengebrauch an der Grenze und der augenfälligen Militärpräsenz abgesehen, vom Kalten Krieg wenig zu merken. Nur während der Kubakrise im Oktober 1962 hielten die Bewohner der Stadt noch einmal den Atem an. Aber nachdem Kennedy und Chruschtschow auf den Einsatz von Atomwaffen verzichtet hatten, beruhigten sich die Gemüter schnell wieder.

      Das neu gewonnene Sicherheitsgefühl wurde bestätigt, als der amerikanische Präsident den Berlinern im Juni 1963 vor dem Schöneberger Rathaus seine herzliche Verbundenheit, ja, seine persönliche Zugehörigkeit garantiert hatte. Da blieb kein Auge trocken. Kennedy stieß bei seinem Berlin-Besuch auf eine Begeisterung, wie sie sonst kaum einem Politiker entgegenschlug. Alt und Jung, Groß und Klein standen jubelnd und mit Ami-Fähnchen winkend am Rand, als der Autokonvoi mit dem US-Präsidenten durch die Straßen fuhr. Wie groß war deshalb der Schock, als Kennedy kein halbes Jahr nach seinem Besuch, am 22. November 1963, ermordet wurde. An dem auf das Attentat folgenden Tag schickte man uns nach der ersten Schulstunde wieder nach Hause. Kaum eine Lehrerin, kaum ein Lehrer sah sich in der Lage, nach dem schrecklichen Geschehnis des Vortags Unterricht zu erteilen. Kennedy stand wie kein anderer für die Verbundenheit der Berliner Westsektoren mit der westlichen Welt. Sein Tod löste einen regelrechten Schock aus und es floss so manche Träne. Aber bald kannte man den Namen des neuen Präsidenten und setzte darauf, dass sich auch Lyndon B. Johnson wie ein Berliner fühlen würde.

      Und wenn die Russen, amerikanische Präsenz hin oder her, nun doch auf die Idee kommen sollten, die Stadt noch einmal abzuriegeln? Für den Fall der Fälle hatte der Senat vorgesorgt. In riesigen Vorratshallen wurden Zahnbürsten, Monatsbinden, Präservative, Kleidungsstücke, Brennstoffe, kurzum, es wurde alles gelagert, was bei einer erneuten Blockade für die Überlebensfähigkeit der Stadt vonnöten gewesen wäre. Vorneweg selbstverständlich Lebensmittel, die vor Ablauf ihrer Haltbarkeit auf den Markt geworfen wurden. Rindfleisch und Schmalzfleisch aus Senatsreserven bereicherten den Speiseplan vieler Wohngemeinschaften noch in den 70er und 80er Jahren. Große Blechkonserven mit gelber Banderole. Es schmeckte ziemlich gemein, war aber nahrhaft und billig.

      Wichtig für das Zusammengehörigkeitsgefühl der West-Berliner waren in den Jahren nach dem Mauerbau feste Rituale. Zu den kleinen Ritualen gehörte die grüne Kerze, die mit weißer Banderole und der roten Aufschrift „Ich denke an Dich“ zu Weihnachten in die Fenster gestellt wurde. Ein größeres Ritual war die alljährlich stattfindende Polizeischau im Olympiastadion. Vor den prall gefüllten Rängen der Arena zeigte die Berliner Polizei, was sie konnte. 16 Mann auf einem Motorrad, oder – ich bin mir nicht mehr ganz sicher – waren es sogar 20, die dabei noch die halsbrecherischsten Verrenkungen machten? Ein Funkwagen, VW-Käfer, dunkelblau, der in ein gefülltes Wasserbecken fuhr, ohne dass seine beiden Insassen zu Schaden kamen. Berittene Polizei, die mit ihren riesigen Gäulen imponierte und nicht zuletzt Hundestaffeln, die die herzallerliebsten Kunststückchen vorführten, zum Beispiel die Jagd auf einen wegrennenden Verbrecher. Dazu spielten die Bläser und Trommler des Polizeimusikcorps schmissige Weisen und begleiteten zum Schluss die von den Stadionbesuchern lauthals mitgeschmetterte Nationalhymne. Auf der Ehrentribüne saßen neben Senatsmitgliedern und der Polizeiführung natürlich auch die drei alliierten Stadtkommandanten – ohne ihren sowjetischen Kollegen, versteht sich. Ein kaum weniger bedeutsames Spektakel war die ebenfalls jährlich zelebrierte alliierte Militärparade, bei der allerdings, anders als man das von der Polizeischau kannte, außer von den Militärkapellen keine nennenswerten Kunststückchen geboten wurden. Stärker noch als bei den Militärparaden manifestierte sich die Verbundenheit zwischen den West-Berlinern und ihren Beschützern auf den alliierten Rummelplätzen beim deutsch-amerikanischen und beim deutsch-französischen Volksfest. Zu den unverzichtbaren Gepflogenheiten der Berliner Politinszenierung gehörte auch die Freiheitskundgebung, mit der der 1. Mai vom Tag der Arbeit zu einem Anti-Ost-Feiertag quasi umgewidmet wurde. Die Maikundgebungen, traditionell eher Anlaufpunkt für gewerkschaftlich orientierte Menschen, hatten in den frühen 60er Jahren reichlich Zulauf selbst von CDU-Anhängern. Die Gewerkschaften als Veranstalter stellten die Maikundgebung ganz in den Dienst der freiheitlich-west-berlinischen Sache; um Arbeitnehmerbelange ging es nur zweitrangig.

      Die Berichterstattung über alle Ereignisse im Westteil der Stadt durch den SFB und den RIAS war neben der Information der eigenen Bevölkerung nicht zuletzt auch darauf gerichtet, die Bürger Ost-Berlins und der sendetechnisch erreichbaren DDR-Bezirke anzusprechen. Zu einer beliebten TV-Institution wurde gleich nach ihrer erstmaligen Ausstrahlung die Abendschau-Serie „Wo uns der Schuh drückt“. Jeden zweiten Samstag erklärte hier der Regierende Bürgermeister Willy Brandt seinen lieben Berlinerinnen und Berlinern, wo es langzugehen habe. Im gleichen Turnus ertönte zum aktuellen Geschehen der kabarettistische Gesang des Mäcki-Trios mit dem auf die Alliierten gemünzten Refrain

       Grand mit Vieren, Grand mit Vieren,ja, den spielt man hier bei uns so manches Jahr,Grand mit Vieren, doch wir verlierendie Partie auf keinen Fall, das ist längst klar.

      Und für die Kinder gab´s sonntags den „Onkel Tobias vom RIAS“. Und im Fernsehen täglich das Sandmännchen. Das sogar zweimal. Zuerst das Ostsandmännchen, dann ein bisschen zeitversetzt das Westsandmännchen. Ostfernsehen war manchen Kindern untersagt. Die meisten Eltern hatten aber nichts dagegen und auch meine waren damit einverstanden, dass wir bei Kindern in der Nachbarschaft, deren Eltern einen Fernseher hatten, Ostsendungen sahen. „Meister Nadelöhr“ und „Professor Flimmrich“ als Institutionen des DDR-Fernsehens waren uns genauso vertraut wie aus dem Westen die Augsburger Puppenkiste. Spannend war auch die Fernsehwerbung, im West-Berliner Regionalprogramm mit den Zeichentrick-Auftritten des Telebärs angereichert.

      „HB rauchen, heißt frohen Herzens genießen.“

      „Peter Stuyvesant – der Duft der großen weiten Welt.“

      „Jaques, der Lebenskünstler: Erstmal entspannen, erstmal Picon.“

      “Drei Dinge braucht der Mann: Feuer, Pfeife, Stanwell.“

      “Man braucht ihn eben – Underberg.“

      “Im Asbach-Uralt ist der Geist des Weines.“

      Die

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