Mein kleiner Verrat an der großen Sache. Dietrich Plückhahn
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Weniger tolerant als der Umgang mit dem Ostfernsehen war das Verhältnis zur S‑Bahn. Die S-Bahn wurde nach alliierter Übereinkunft auch in West-Berlin von der DDR-Reichsbahn betrieben. Als Ostunternehmen hatte sie nach dem Mauerbau bei den West-Berlinern verspielt. „Fahr nicht mit der S-Bahn! Du bezahlst Ulbrichts Stacheldraht!“ So war es im Treppenhaus unserer Grundschule auf einem Wandplakat mit einem stilisierten Stacheldrahtzaun zu lesen. Ich fuhr also mit der U‑Bahn, denn die gehörte zur BVG, dem West-Berliner Verkehrsunternehmen. Und ich musste viel U-Bahn fahren. Dreimal die Woche Chorprobe in Charlottenburg, dazu oft noch mindestens ein Kirchenmusiktermin irgendwo in der Stadt. Ich kam schon als Achtjähriger ganz gut rum in Berlin und bekämpfte die Langweiligkeit der endlosen U-Bahnfahrten mit ausgiebiger Karl-May-Lektüre. Zu lesen gab´s darüber hinaus die Werbesprüche auf den Bahnhöfen und auf den im Wageninnern eigens dafür vorgesehenen Feldern über den U-Bahnfenstern:
„Ganz furchtbar schimpft der Opapa:
die Oma hat kein Paech-Brot da.“
„Auch der Kassierer vom Verein fand:
Ja, Noris ist ein guter Weinbrand!“
„Bei jedem Brand die Feuerwehr,
bei Sodbrand aber Bullrich her.“
„Doornkaat aus Kornsaat.“
Die Doornkaat-Werbung überzeugte mich am wenigsten. Neben dem Werbespruch, der sich immerhin reimte, war eine feiste Männervisage abgebildet, die den Betrachter ungesund rotwangig und auf eine dümmlich kumpelhafte Weise anlachte. Ich nahm mir vor, nie in meinem Leben Doornkaat zu trinken. „Jacobi 1880 – schmeckt mit 18 und mit 80.“ Das war schon irgendwie besser. Noch besser war, dass es an den Kiosken auf den U-Bahnhöfen, erst nur selten, dann immer häufiger, Zeitschriften mit nackten Brüsten und Frauenärschen zu sehen gab. So mancher Umsteigeaufenthalt wurde hierdurch unplanmäßig verlängert.
Protest liegt in der Luft
Man konnte sich also im West-Berlin der 60er Jahre einrichten. Es lässt sich sogar sagen, dass die Stadt, zumindest bis 1967, ein beinahe gemütliches Plätzchen war. Peu à peu machten sich jedoch Veränderungen bemerkbar, die die Gemütlichkeit zunehmend beeinträchtigten. Wie auch in anderen Städten kam es in Berlin erst gelegentlich, dann immer häufiger zu ungewohnten Ereignissen. Ein herausragendes Ereignis dieser Art war der Auftritt der Rolling Stones am 15. September 1965. Die Waldbühne, bis dahin auch Schauplatz von Treffen der Vertriebenenverbände, wurde an diesem Abend von den in Ekstase geratenen Stone-Fans regelrecht zerlegt. Unsere Klassenlehrerin Fräulein Felix erzählte uns am nächsten Tag, dass sie auch dabei gewesen sei. Sie habe aber nur die Rolling Stones hören wollen und an der Randale habe sie sich natürlich nicht beteiligt, versicherte sie mit einem verschämten Grinsen. Dass meine Lehrerin überhaupt zu einem Konzert dieser Band gegangen war, fanden meine Eltern schon empörend genug und teilten damit die unter der beunruhigten Bevölkerung herrschende Mehrheitsmeinung. Es lag Protest in der Luft, was allein schon an der sich verbreitenden Beatmusik und an langhaarigen jungen Männern zu erkennen war. Aber was schwerer wog: Der Protest hatte auch eine eindeutig politische Seite.
Erst sporadisch, dann immer häufiger kam es zu studentischen Aufmärschen, die sich offen und unverblümt gegen die Politik der amerikanischen Schutzmacht und ihrer Verbündeten richteten. Vor allem das Engagement der USA in Vietnam war es, das immer mehr junge Menschen auf die Straße trieb. Einen gewissen Anteil daran hatten junge Männer, die sich ihrer Wehrpflicht in Westdeutschland entzogen hatten. In West-Berlin gab es nur alliierte Streitkräfte und keine Bundeswehr. Wer sich hier rechtzeitig einen Wohnsitz beschafft hatte, konnte seinem Militärdienst entgehen und es waren in der Regel politisch linksorientierte Männer, die von dieser Möglichkeit Gebrauch machten.
Motor der aufkommenden Protestbewegung war der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS), der sich den Kampf gegen das gesellschaftliche Establishment auf die Fahnen geschrieben hatte. Seine wichtigste Basis hatte der SDS an der Freien Universität Berlin (FU), ausgerechnet also an der Hochschule, die 1948 mit massiver Hilfe der Amerikaner als Gegenstück zur Ost-Berliner Humboldt-Universität gegründet worden war. Wortführer des SDS war Rudi Dutschke. Der nach seinem Abitur in Luckenwalde und noch kurz vor dem Mauerbau in den Westen geflüchtete Soziologiestudent wurde zur Symbolfigur dessen, was sich selbst als Außerparlamentarische Opposition bezeichnete. Mehr als die meisten seiner Mitstreiter verkörperte Dutschke die Protesthaltung, die sich in der jungen Generation breitmachte. In den wenigen Jahren seines Wirkens vor dem auf ihn verübten Attentat wurde er zu einem regelrechten Medienstar, gab Interviews, stand an Rednerpulten und konnte sich journalistischer Aufmerksamkeit jederzeit sicher sein. Mit einer diffusen Mischung aus Christentum und Marxismus war er, zumindest nach außen, der theoretische Kopf des SDS. Weniger theorielastig, aber mindestens ebenso medienwirksam traten andere Protagonisten der APO auf. Mit Namen wie Fritz Teufel und Rainer Langhans verband die erschreckte Öffentlichkeit das skandalöse Treiben der Kommune 1, die sich neben dem Ausprobieren neuer Lebensformen der Durchführung von Polit-Happenings widmete. Die beunruhigten West-Berliner wurden von den Zeitungen, den Radiosendern und der Berliner Abendschau über die Entwicklung auf dem Laufenden gehalten. Es war nicht nur die Springer-Presse mit BZ, Berliner Morgenpost und Bild, die dem langhaarigen Polit-Rowdytum den Kampf ansagte. Auch sonst begegneten die meisten Journalisten den rebellischen Studenten und ihrer Gefolgschaft mindestens mit Kopfschütteln.
Die Lage eskalierte am 2. Juni 1967. Berlin hatte an diesem Tag hohen Besuch: Mohammad Reza Pahlavi, der Schah von Persien, gab der Stadt für einige Stunden die fragwürdige Ehre seines Aufenthalts. Wirtschaftliche Interessen verbanden diesen Mann eng mit dem Westen, der ihn aus ebensolchen Interessen heraus keineswegs daran hinderte, den Iran mit einem brutalen Unterdrückungsapparat zu regieren. Für die APO passte der Schah also voll ins Feindbild und eine große Zahl von Demonstranten folgte den Protestaufrufen. Während der Schah sich mit dem Regierenden Bürgermeister Heinrich Albertz in der Deutschen Oper die „Zauberflöte“ anhörte, tobte draußen auf der Bismarckstraße die Auseinandersetzung zwischen den Demonstranten und der Polizei. Angeheizt worden war die Stimmung durch ein paar hundert „Jubelperser“, die, wahrscheinlich unter Beteiligung des persischen Geheimdienstes, die Schah-Gegner attackiert hatten, ohne von der Polizei daran gehindert zu werden. Umso härter ging diese dann gegen die Anti-Schah-Demonstranten vor, von denen einige Zuflucht in den Hinterhöfen der Seitenstraßen suchten. Einer von ihnen war der Student Benno Ohnesorg. Aus nächster Nähe wurde er von dem Kriminalobermeister Karl-Heinz Kurras in den Hinterkopf geschossen und erlag bald darauf seinen Verletzungen. Der Berliner Senat und die Polizeiführung setzten alles daran, den Tathergang zu vertuschen. Das gegen Kurras eingeleitete Strafverfahren endete mit einem Freispruch. Erst Jahrzehnte später stellte sich heraus, dass Kurras auf der Lohnliste des DDR-Staatssicherheitsdienstes stand. Der 42 Jahre nach der Tat in Gang gesetzte Versuch, ihn für die Tötung Ohnesorgs zu belangen, scheiterte infolge der zwischenzeitlich weiter verschlechterten Beweislage kläglich. Alles spricht aber dafür, dass Kurras, ein Waffennarr, die unübersichtliche Lage am 2. Juni 1967 nutzte,