Mein kleiner Verrat an der großen Sache. Dietrich Plückhahn
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Die Wahrheit, das täglich erscheinende Organ der SEW, las ich damals noch nicht, umso interessierter hörte ich aber den Deutschen Freiheitssender 904. Auf Mittelwelle war dieser Sender in den Abendstunden gut zu empfangen. Erkennungsmelodie waren die ersten Töne von „Freude, schöner Götterfunken“, danach erklangen die mit markiger Stimme gesprochenen Worte: „Hier ist der Deutsche Freiheitssender 904 – der einzige Sender der Bundesrepublik, der nicht unter Regierungskontrolle steht.“
Der Sender wurde von der DDR betrieben, hatte ein Wiener Postfach als Kontaktanschrift und fiel kaum nach deren Beginn der deutsch-deutschen Annäherungspolitik zum Opfer. 1968 stand er aber noch in voller Blüte und bearbeitete seine Hörer mit Kurzinformationen über den bundesrepublikanischen Schreckensalltag. Dazwischen liefen aktuelle Schlager, von Katja Ebstein bis zu Roy Black, von den Beatles bis zu Wencke Myhre. Politsongs hörte man auf diesem Sender fast nie. Dazu musste man schon einen der offiziellen DDR-Sender einschalten, der einem die neuesten Produkte des Oktoberklubs präsentierte. „Sag mir, wo du stehst und welchen Weg du gehst!“
Die Schallplatten mit den Liedern des Oktoberklubs waren im Westen nicht überall zu bekommen. Anders verhielt es sich mit den Platten von Wolf Biermann und Franz Josef Degenhardt, die ihre Lieder bei großen westlichen Labels herausbrachten. Sogar bei Woolworth standen sie im Plattenfach. Es gab schließlich eine Nachfrage und die wurde ohne Ansehen der Inhalte bedient. Biermann, Degenhardt – das passte schon 1968 nicht richtig zusammen, aber damals war mir das noch egal. Ich fand beide gut. Beide standen für eine wie auch immer geartete Antihaltung und das reichte erstmal.
Spätestens seit Gründung der Kommune 1 machte das Wort Provokation die Runde. Am provokantesten traten die auf, die sich mit den Institutionen anlegten, sich nicht an die vorgegebenen Regeln hielten. Man hörte von SDSlerinnen, die in Gerichtsverhandlungen ihre Brüste entblößten. Der Kommunarde Karlheinz Pawla entledigte sich seines Darminhalts vor dem Richtertisch und wischte sich den Hintern mit den Gerichtsakten ab. Solche und ähnliche Aktionen erregten den Unmut derer, die darin keine ernsthaft politischen Handlungen sahen. Wesentliche Teile der APO grenzten sich davon ab und stellten ihre Themen, nicht die Aktion als solche, in den Vordergrund. Zu diesen Themen gehörte auch die Auseinandersetzung mit der halbherzigen Aufarbeitung der NS-Vergangenheit. Heftigen Protest löste der Freispruch von Hans-Joachim Rehse aus, einem pensionierten Juristen, der als Richter am Volksgerichtshof an mehreren Todesurteilen mitgewirkt hatte. Soweit es um den Umgang mit alten Nazis, um die Notstandsgesetze oder andere innenpolitische Themen ging, waren sich die Linken noch einigermaßen einig. Aber schon bei der Frage, welchen Charakter der vietnamesische Kampf gegen die USA hatte, Volkskrieg oder nicht, trennten sich Welten.
Anfänglich, das heißt zu Beginn meiner Linkswerdung, hatte ich mich von den Antiautoritären angezogen gefühlt. Jeder sollte tun und lassen können, was er wollte, keiner sollte das Recht haben, anderen Vorschriften zu machen. Das klang gut und menschenfreundlich. Aber der antiautoritäre Ansatz taugte vielleicht im persönlichen Umgang miteinander. Globalpolitisch und schon ein paar Stufen drunter war es nichts mit der antiautoritären Herangehensweise. Jedenfalls konnte ich mir das nicht vorstellen. Das von A. S. Neill propagierte „Prinzip Summerhill“ taugte vielleicht für den Erzieherberuf, für mehr aber nicht. Hinzu kam, dass etliche Prediger antiautoritären Verhaltens, vor allem junge linke Lehrerinnen und Lehrer, auf eine subtile, manchmal sogar ganz unverhohlene Weise sehr anders als antiautoritär agierten. Da waren die marxistischen, klassenkampforientierten Agitatoren schon konsequenter und glaubwürdiger. Dass sich die Verfechter der Marx’schen Lehre untereinander nicht grün waren, das registrierte ich nur am Rande und hielt es für nebensächlich.
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