Der Baum des Lebens. Sandra Losch

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um neun Uhr damit an."

      Als Deborah wieder hinaus auf den Bürgersteig trat, hätte sie vor Glück über den Asphalt schweben können. Nun hatte sie ihren ersten richtigen Job und durfte ihr Können unter Beweis stellen.

      Das Ganze war nun zehn Jahre her. Seither hat sich die Galerie Summers zu einem absoluten Insidertipp gemausert, was nicht zuletzt auch an Deborahs Engagement und Herzblut lag. Frank wurde im Laufe der Jahre zu ihrem Mentor und väterlichen Freund, vor kurzem hatte er ihr sogar die Teilhaberschaft an der Galerie angeboten. Ein Lebenstraum ging damit für Deborah in Erfüllung. Nun waren sie gerade dabei, eine große Vernissage zu organisieren. Bei dieser Gelegenheit wollten sie die Umfirmierung zu "Summers & Bloomberg Gallery" bekannt geben. In vier Wochen sollte es soweit sein.

      Auf dem Nachhauseweg hielt Deborah kurz bei der Taco Bell Filiale an, die direkt bei ihr um die Ecke lag, um sich ein schnelles TV Dinner mitzunehmen. Sie nahm sich zwar immer wieder vor, sich gesünder zu ernähren und Fast Food zu vermeiden, aber einerseits war es nach einem anstrengenden Arbeitstag sehr viel bequemer so und andererseits war es mit Deborahs Kochkünsten auch nicht besonders weit her, sehr zum Leidwesen ihrer Großmutter Rebecca. Aber wozu hätte sie sich diese Fähigkeiten aneignen sollen? Zu Hause wartete niemand auf sie, noch nicht mal ein Haustier, und für sich allein wollte Deborah nicht extra den Kochlöffel schwingen. Sie ging voll und ganz in ihrem Beruf auf, der ihr aber auch einiges abverlangte, und so fiel sie oftmals abends nach einem langen Tag mit einem Fertiggericht müde auf die Couch.

      Großmutter Rebecca war Jüdin und sie zauberte die leckersten Latkes, Rugelach, Challah, Hühnersuppe mit Knaidlach und andere Spezialitäten der deftigen, jüdisch-aschkenasischen Küche. Während der Jahre in Israel kamen noch weitere sephardisch-orientalische Speisen zu ihren Kochkünsten hinzu, wie Hummus, Falafel und Schakschuka. Sie stammte aus einem wohlhabenden Geschäftshaushalt, ihr Vater war Fabrikant und die Familie schon seit Jahrhunderten in Deutschland ansässig. Rebecca war ihr zweiter Vorname, eigentlich hieß sie Gisela Rebecca und wurde von ihren Eltern, ihrer Großmutter und dem Kindermädchen liebevoll "Gisi" genannt. Sie war der Sonnenschein der Familie. Ihre Eltern hatten erst spät geheiratet, ihr Vater war verwitwet und Rebeccas Mutter war seine zweite Frau. Sie hatten schon nicht mehr damit gerechnet, dass der Ewige ihnen noch ein Kind schenken würde und waren über alle Maßen glücklich, als die kleine Gisela Rebecca zur Welt kam. Sie überschütteten die Kleine mit all ihrer Liebe und Fürsorge. Wie viele der assimilierten jüdischen Familien pflegten auch ihre Eltern den Brauch, einen deutschen und einen jüdischen Vornamen auszuwählen. Doch nach allem, was ihr und ihrer Familie im Dritten Reich zugestoßen war, wollte sie nicht mehr an Gisela erinnert und nur noch Rebecca genannt werden.

      Deborah wusste nicht viel darüber, was ihrer Großmutter während des Krieges widerfahren war, Rebecca sprach nicht darüber. Sie war der Auffassung, dass man die Vergangenheit besser ruhen lassen sollte. Was würde es bringen, ihre Enkeltochter mit diesem Wissen zu belasten?

      Deborah war fast ausschließlich bei ihrer Großmutter aufgewachsen, die sie liebevoll umsorgte und versuchte, ihr Vater und Mutter so gut es ging zu ersetzen. Deborahs Vater war Diplomat und alle paar Jahre verlagerte sich sein Dienstort in einen anderen Teil der Welt. Anfangs hatte ihre Mutter ihn noch begleitet, doch das Nervenkostüm ihrer Mutter war von jeher schwach. Anfängliche Phasen von Niedergeschlagenheit wechselten sich ab mit aufgekratzter Nervosität und wurden schließlich zu massiven Depressionen, Angstzuständen und Panikattacken. Als Deborah drei Jahre alt war, musste ihr Vater schweren Herzens einsehen, dass seine Frau der Verantwortung für Deborahs Obhut nicht mehr gewachsen war und professionelle Hilfe benötigte. Seither war ihre Mutter in einer Nervenheilanstalt untergebracht und lebte dort mehr oder weniger in ihrer eigenen Welt.

      Rebecca hatte sich schon in früheren Jahren immer wieder gefragt, warum ihre Tochter oft so still und in sich gekehrt, ja beinahe niedergeschlagen war, fand sich dann aber mit der Erklärung ab, dass es wohl einfach mit einem von Natur aus eher introvertierten Gemüt zu tun hätte. Sie nahm ihre Enkelin zu sich und wollte alles in ihrer Macht stehende tun, um Deborah die Liebe und Fürsorge zukommen zu lassen, welche die Eltern ihr nicht geben konnten. Nach dem Tod ihres geliebten Mannes Jonathan, mit dem sie so viele Jahrzehnte das Leben geteilt hatte, gab ihr diese Aufgabe wieder neuen Halt und Zuversicht.

      Deborah verehrte ihre Großmutter. Sie hatte eine glückliche Kindheit bei ihr und auch heute noch war die alte Dame ihre wichtigste Bezugsperson. Sie hatte es sich gerade vor dem Fernseher gemütlich gemacht und wollte die Acht-Uhr-Nachrichten verfolgen, als ihr Handy läutete. Es war Rebecca.

      "Hi Gran, was gibt's?" meldete Deborah sich.

      Rebecca kam gleich ohne Umschweife zum Punkt: "Bist du schon zu Hause? Dann komm bitte sofort zu mir."

      Deborah war alarmiert: "Geht es dir nicht gut? Ist etwas passiert?"

      "Nein, nein. Mir geht es gut, aber ich brauche dich hier. Es gibt etwas zu besprechen."

      "Granny, muss das heute noch sein? Ich bin gerade erst nach Hause gekommen und habe einen wahnsinnig anstrengenden Tag hinter mir."

      "Ok, dann bist du also in 20 Minuten hier. Bis dann."

      Ihre Großmutter hatte aufgelegt und Deborah begriff, dass es in diesem Fall wohl keine Widerrede gab. So liebevoll und fürsorglich Rebecca auf der einen Seite sein konnte, so streng und energisch war sie andererseits. Und wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann war sie nicht davon abzubringen. Also mobilisierte Deborah ihre letzten Kraftreserven, schnappte ihre Autoschlüssel und fuhr los.

      Bei ihrer Großmutter angekommen öffnete Deborah mit ihrem Schlüssel die Wohnung ihrer Großmutter, und ging direkt zum Wohnzimmer. Dort saß Rebecca in dem grünen, mit Veloursleder bezogenen Ohrensessel, der schon seit Deborahs Kindheit dort stand. Auf dem Couchtisch vor ihr lag ein geöffneter Luftpostumschlag und ein Brief in einer für Deborah unverständlichen Sprache.

      "Granny, was ist los? Warum wolltest du mich so dringend sprechen und warum ging das nicht am Telefon?"

      "Nun setz dich erst einmal hin. Ich werde es dir erklären." Mit einem leichten Kopfnicken wies ihre Großmutter auf das Sofa neben sich und Deborah nahm gespannt Platz.

      "Nun spann mich bitte nicht länger auf die Folter, Granny."

      Rebecca nahm den Brief und strich die Seiten glatt. "Ich habe heute einen Brief erhalten. Aus Deutschland." Schweigen. Eine bedrückende Stille hing im Raum schwer wie Blei. Ihre Großmutter war des Deutschen nach wie vor mächtig, auch wenn sie sich seit 70 Jahren weigerte, nur eine einzige Silbe Deutsch zu sprechen. Soweit Deborah wusste, gab es keine Verbindungen mehr zu Deutschland, alle Angehörigen ihrer Großmutter waren im Krieg umgekommen, bis auf die Mutter. Mit ihr war Rebecca bei Kriegsende in einem Auffanglager für Displaced Persons aufgenommen worden. Nach fünf Jahren starb ihre Mutter und Rebecca musste sich allein durchschlagen. Bald darauf wanderte sie nach Israel aus, das damals noch Palästina hieß. Sie war begeistert von der Idee, den damals noch jungen jüdischen Staat Israel, der 1948 gegründet worden war, mit aufzubauen und in einem Kibbuz hatte sie ihren Mann Jonathan kennengelernt. Als Deborahs Mutter auf die Welt kam, entschieden sie sich, in die USA umzusiedeln. Wer also sollte ihrer Großmutter nun einen Brief aus Deutschland schicken?

      "Hast du schon einmal von den sogenannten "Stolpersteinen" gehört?" wollte Rebecca wissen.

      "Du meinst diese kleinen Gedenktafeln, die in europäischen Städten auf den Gehwegen verlegt werden für ehemalige jüdische Bürger, die irgendwann deportiert wurden? Was ist damit?"

      "Sie wollen einen solchen Stolperstein zum Gedenken an meine Eltern, deine Urgroßeltern, verlegen. In Nürnberg, dort, wo wir herkommen. Aber das ist eigentlich nur Nebensache."

      "Was?

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