Der raumlose Raum. Peter Mussbach

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Der raumlose Raum - Peter Mussbach

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in mir ohnehin durcheinander … schon als Kind konnte ich mich manchmal gar nicht mehr daran erinnern, ob ich mich nun im Morgen, im Gestern oder im Heute befinde: Alles ist gleichzeitig!“

      Riesenrad

      Es nieselt und trotzdem herrscht Hochstimmung. Er ist gerade mal vier Jahre alt und hat seine „Alleinstadtexpeditionen“ noch eine (lange) Weile vor sich – er hat noch keine Ahnung, was das Wort überhaupt bedeutet: Alleinstadtexpedition.

      Für Anfang Oktober – warms in Obernbayern beim Altweibersommer – ist es noch angenehm lau draußen. Alles drängt auf den Marktplatz, weil dort Kirchweih ist und die Altstadt tanzt. Selbst die älteren Häuser halten mit.

      Ruckartig fällt das Getriebe des Riesenrads seinem Treibriemen in die Arme und los geht's: „Am liebsten immer, immer nur Riesenrad, immer wieder“, spuckt er aufgeregt in die kleine bunte Gondel, die eigentlich zu einer Barocktheatermaschine gehört, wie Tante Emmi ihm erklärt, aus der sie von einem lustigen Riesen herausgeschraubt und mit vielen anderen ihresgleichen zu einem Riesenrad zusammenmontiert wurde. Jetzt wirbeln die aufgeregten Gondelhäuschen wunderlich blinkend im aufrechtem Bogen durch die Luft und alle Mitfliegenden, die sich krampfhaft festhalten, damit sie nicht hinaus in den Himmel geschleudert werden, quietschen und johlen, weil sie vor lauter Bauchkitzeln Pusteln kriegen und rasch jede Orientierung verlieren und ins Ungewisse fortgerissen werden, als sei das Ganze eine einzige, nie enden wollende Reise ins Nirgendwohin.

      Wahnsinn im vertikalen Taumel: Start nach oben in die Wolken, aberwitziger Flug über Dächer und sich rasch entfernende, staunend offene Mäuler drunten, freier Fall, der einem den Atem nimmt, so dass im Bauch Mücken und Schwalben tanzen, und dann, wie bei der versuchten Landung eines großen Vogels, eines Storchs zum Beispiel, sofort wieder nach oben, in einen offenen heiteren Himmel, als wäre der Landeplatz für den Riesenvogel doch nicht der richtige gewesen.

      Wenn jetzt noch das Riesenrad zu einem riesigen Rad würde, könnte man im süßesten Taumel über die Welt rollen, in wunderbaren Schleifen auf und nieder torkeln und infolge der tollen Dreherei bis übers Gebirge kommen, aus purer Lust über alle schroff hochragenden Gipfel hinweg, wie mit Siebenmeilenstiefeln andere Länder besuchen, ohne sich die Sohlen aufzureißen.

      „Jedes Glück hat einmal ein Ende“, brüllt ihn seine Mutter entnervt an. Sie ist erschöpft und ihr ist übel. Außerdem möchte sie nicht so weit weg. Andere Länder sagen ihr sowieso nichts, Italien vielleicht, aber dann nur im Bikini! – „Schluss jetzt!“, ruft sie mit blassem Gesicht und zerrt ihn schon nach dem dritten Mal Taumelvertikale aus dem Riesenrad, woraufhin er in einen Schreiwutanfall verfällt, weil sie gerade schon Obernbayern hinter sich gelassen haben und in fremde geheimnisvolle Landschaften vorgedrungen sind. „Immer zurück und ewig dableiben“, schleudert er seiner Mutter ins Gesicht. „Nach Hause jetzt“, kreischt sie zurück, „jetzt reicht es mir mit dir!“

      Bei dem Gezeter bleiben unwillkürlich manche der drängelnden Kirchweihgänger stehen und blaffen seine Mutter an, „dass man mit kleinen Kindern nicht so umgehen darf“, was ihre Explosion zur Folge hat: Sie verpasst ihm eine saftige Ohrfeige, dass die Nase blutet, und fordert wutentbrannt die Besserwisser dazu auf, „ihre Nasen nicht in fremder Leute Angelegenheiten zu stecken!“

      Als er mit seiner rotroten Nase dasteht wie ein trauriger Clown und die Welt nicht mehr versteht, die ihm verbieten will, mindestens zehn Mal Riesenrad zu fahren, weil es ihm gut tut – viel besser zum Beispiel, als mit seiner Mutter Kirschkuchenessen zu üben wie in England, nur weil sie gerade in der Zeitschrift Andere Länder Andere Sitten davon gelesen hat, dass man dort den Kuchen mit Messer und Gabel verspeist – wird ihm wieder einmal klar, dass mit seiner Mutter nicht gut Kirschen essen ist.

      Morgen wird er es alleine versuchen, dann fährt er hundert Mal Riesenrad und kann nicht mehr zurückkommen, weil er schon viel zu weit davon gerollt ist, um den Weg nach Hause noch finden zu können.

      Alleinstadtexpedition

      So schwer es ihm auch fällt, sich vernünftig auf den Beinen zu halten, bald wissen die von allein, wohin sie laufen sollen, denn das Riesenrad rückt näher. Er kann es jetzt schon über den Dachgipfeln wie hinterm Gebirge sich drehen sehen: Die knallbunt zwitschernden Schwalbengondeln wirbeln durch die Wolken, bevor sie in die Tiefe stürzen und gellende Lustangstschreie die Luft erfüllen, und der würzige Bratwurstgeruch überall macht ihm doppelten Appetit: Riesenrad und Bratwurst gleichzeitig – das wär's!

      „Fährst du mit?“, fragt ihn ein Winzling, der an der Hand seiner Mutter neben ihm steht und die modernisierte Barocktheatermaschine bestaunt, als wäre sie kein Riesenrad, sondern ein Ufo.

      Ufos sind in aller Munde; er weiß sogar schon, was das ist, ein „Ufffooohhh“: „Das sind Untertassen, die mit Rosenthal nichts zu tun haben“, erklärt ihm eine böse Nachbarin, „mit denen kommen alle Kinder vom Mann im Mond runter geflogen auf die Erde und sind bitterböse und lebensgefährlich – Außerirdische!“ Das allerdings will ihm nicht so recht einleuchten, „denn Kinder sind harmlos“, meint er, „selbst wenn sie vom Mond kommen.“

      „Es ist toll, da lernt man fliegen!“, sagt der Junge, der haargenau seine Größe hat, er könnte sein Zwilling sein. „Wieso?“, fragt er, „wie kommst du denn darauf, glaubst du etwa, dass man für ein Ufo einen Führerschein braucht?“ „Was hast du gesagt? … das ist ein Radriese, mein Lieber, das sieht doch jedes Kind, damit lernt man fliegen, aber davon verstehst du nichts!“, antwortet der Junge stolz, „bist du da etwa schon mitgefahren?“ „Ja, klar“, sagt er, „nicht nur im Riesenrad, sondern schon mit ganz anderen Sachen, aber davon verstehst du nichts!“

      „Fahren wir zusammen?“, fragt ihn der Junge mit Augen, die wie Lichtfeuerfunken glitzern. Dabei deutet er mit einer leichten Kopfbewegung nach schräg oben zu seiner Mutter. „Also, Mama, heute fahren wir mindestens fünfmal, nicht wahr?“ „So oft, bis uns schlecht wird“, antwortet sie. „Also, hast du Lust?“ fragen ihn beide und die Mutter des Kollegen kneift langsam und zum Lachen komisch ein Auge zu. „Das muss man erst mal können“, denkt er, „mit denen fahre ich mit!“

      „Schaffst du überhaupt zehnmal?“, fragt ihn sein Kompagnon plötzlich skeptisch und schaut ihm prüfend ins Auge. „Oder schaffst du nur fünfmal, dann müssen wir ja mittendrin stoppen und dich rauslassen!“ „Wenn dir schon beim zweiten Mal schlecht wird, dann halten wir wegen dir, und ich kann noch zwanzigmal weiterfahren!“, erwidert er nassforsch, während alle drei zur Kasse gehen.

      Plötzlich wird ihm mulmig. Er hat kein Geld. Soll er einfach behaupten, er hätte es vergessen? In seinem Alter hat man noch kein Geld, da glaubt ihm keiner, dass er es vergessen hat. „Das werden die beiden schon wissen“, denkt er sich, „ein Kleiner wie ich hat kein Geld! Und außerdem haben sie mich eingeladen, darauf kann ich mich schlimmsten Falles immer noch herausreden. Und wenn sie mich nicht mitnehmen, dann sind sie eben geizig, denn fünfzig Mal, das kostet! Dann springe ich eben während der Fahrt auf: Fliegen, Drehen und Rollen werde ich in jedem Fall, weit übers Gebirge!“

      „Drei Mal: Zwei Kinder und eine Erwachsene“, hört er die Mutter über sich in die Kassenbude hineinrufen. Ihm fällt ein Stein vom Herzen.

      Als sie schon ewig im Riesenrad unterwegs sind, drängt der Knirps neben ihm nach einer Pause. „Na also, doch du, und nicht ich!“, ruft er triumphierend.

      Erst einmal isst jeder von ihnen eine Bratwurst, denn keinem ist schlecht, aber alle sind sie fürs Erste erschöpft. – „Nur eine kleine Pause, dann wieder!“, drängt der Pausbackenbratwurstknirps, den er in sein Herz geschlossen hat. „Ich glaube, ich kann nicht mehr“, antwortet er und wischt sich den Senf aus dem Gesicht.

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