Der falsche Gelehrte. Winfried Wolf

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Der falsche Gelehrte - Winfried Wolf

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in den damals einzigen kleinen Kafenion von Lentas einen Kaffee trinken. Dort hatte sich eine Gruppe von Griechen aus Heraklion niedergelassen. Sie tranken den ganzen Abend und der Wirt goss immer wieder Schnaps in die Gläser seiner Gäste. Ich dachte mir, wie leicht dieser Wirt doch sein Geld verdient. Als wir wieder zu Hause waren, habe ich zu meinem Mann gesagt: Wir bauen uns auch so ein Kafenion.

      Prager ließ sich noch einen Kaffee einschenken, lehnte sich zurück und sah hinaus aufs graublaue Meer. Alle warten sie jetzt im Frühjahr auf die Fremden, die mit dem Bus, dem Leihwagen oder mit dem Rucksack auf dem Rücken den Berg herunterkommen. Und so, wie sie einst Oliven von der Erde sammelten, um Öl und Geld aus ihnen zu pressen, so sammeln sie heute die Touristen ein.

      Er hatte im Internet nach einem Ort auf Kreta gesucht, der etwas abseits lag, gleichwohl aber nicht aus der Welt war. Vielleicht wäre Agii Deka günstiger gewesen, das lag nicht weit von den archäologischen Ausgrabungen von Gortyn entfernt. Aber das Meer hatte schließlich den Ausschlag gegeben. Er wollte aufs Meer hinausschauen können, wenn er sich schon zum Gelehrten wandeln musste. Hinter dem Horizont lag Lybien. Das klingt fremd und gut, dachte Prager: Ich trinke Kaffee und schaue aufs Lybische Meer. Am Morgen hatte das Wasser über dem Dunst eine silbergraue Farbe angenommen, am Nachmittag wird es wieder tiefblau sein. Reinhard Mey hat recht, wenn er singt: Es hat tausend Farben und tausend Gesichter . Es kommt darauf an, wie das Sonnenlicht an der Wasseroberfläche reflektiert und gebrochen wird. Und im Meer selbst wird das Licht von Abermillionen Wassermolekülen und Partikeln in alle Richtungen, auch rückwärts, umgeleitet. Solche Gedanken gingen dem falschen Prager durch den Kopf, als er auf der Terrasse der Taverne Zorbas seinen morgendlichen Kaffee trank und aufs Meer hinaus sah.

      Bei seinen Recherchen war Prager auf einen berühmten Zeugen gestoßen, der Lentas schon vor vielen Jahrzehnten erlebt und beschrieben hatte, den Schriftsteller Nikos Kazantzakis, der mit seinem Roman Alexis Sorbas Weltruhm erlangte. Prager konnte sich erinnern, dass er dessen Verfilmung mit Anthony Quinn und Lila Kedrova Ende der 60er Jahre gesehen hatte.

      In die Einsamkeit am Lybischen Meer zog es Kazantzakis 1924. Das war die Zeit, als er in Begeisterung für die Ideen der kommunistischen Revolution in Russland schwelgte und auch eine neue Gesellschaft in Griechenland und auf Kreta schaffen wollte. Es war aber auch die Zeit, als er begonnen hatte, sein Versepos Odyssee zu schreiben. Er bat seine Freundin Eleni nach Kreta zu kommen und mit ihm nach Lentas zu reisen. Eleni kam, wie Prager gelesen hatte, zu ihrem Geliebten, beschrieb den Ort später aber als wenig einladend. Ein halbmondförmiger Strand, von zwei Seiten durch steil abstürzende Felsen eingeschlossen. Ein einziges Dach: ein Speicher, mit Krügen und Getreide gefüllt. Ein einziger Bewohner: ein halb tauber und blinder Greis. [...] Weder Tisch noch Bett, keine Wäsche, nichts, was die Illusion von Behaglichkeit hervorrufen könnte. Ameisen, Fliegen und heller Sand, der rauchte wie geschmolzenes Zinn. Kazantzakis arbeitete in Lentas intensiv an seiner Odyssee , der Rest des Tages war der Lektüre und dem Baden am Strand gewidmet.

      Prager lächelte, ich mache es genauso: Am Morgen widme ich mich dem Studium der römischen Geschichte, den Mittag verbringe ich dösend unter einem schattigen Vordach, am Nachmittag fahre ich zu den Ruinen von Gortyn und den Abend beschließe ich beim Wein im El Greco . Was mir fehlt, ist eine treue Gefährtin, der ich in einer kühlen Grotte, zur Not tut es auch mein Studio, von meiner Verwandlung erzählen kann. Kazantzakis‘ Freundin Eleni hatte notiert: Am Tage lasen wir in einer engen Grotte kauernd, vernünftigerweise Ilias, Goethes Iphigenie auf Tauris, Aischylos und Tschechov.

      Kazantzakis führte in Lentas das Nacktbaden ein. Heute nichts Ungewöhnliches, erst heute Morgen hatte ihn Frau Speer an diese Möglichkeit der Naturerfahrung erinnert. Für die damalige Zeit wohl ein ungeheurer Vorgang, dachte Prager, eine Rebellion gegen Sitte und Anstand. Ein Mann und eine Frau abends am Strand - existiert Höheres im All? , hatte Kazantzakis geschrieben. Prager zog ein zusammengefaltetes Blatt aus seinem Notizbuch. Er hatte sich noch in Freiburg Auszüge aus Briefen an die „liebe, liebe Genossin“ kopiert. Er hatte sich eine Stelle unterstrichen: Doch wäre es, und ich müsste jetzt plötzlich sterben, so würde vor meine Augen das Meer bei Leda treten, unser Fels, der glühend heiße Kiesel, die flammenden Zitronenbäume, ihr schlanker biegsamer Leib, ihr schmaler und verschlossener Mund. Ach, voll von Wunderbarem ist diese Erde, und unser Herz ist ein nie befriedigtes, furchtbares Mysterium, das die ganze Höllenqual des Lebens in heilige Trunkenheit umwandelt. Erinnern sie sich doch - welch ein Ringen, um Leda in ein Paradies zu verwandeln! Leda, Lentas , man muss nur das Ganze etwas literarisieren, schon ist ein Sinn im Dasein. Und ich sage mir, ich heiße Prager, ich bin ein pensionierter Geschichtslehrer aus Deutschland und gehe hier meinem Hobby, dem Studium der römischen Geschichte auf Kreta nach.

      Titel

      Sechs Monate vorher: Walter Kübler fährt nach Freiburg

      Einen Moment bitte, ich muss erst schauen wo mein Mann ist, sagte Roswitha Kübler und legte den Telefonhörer zur Seite. Sie fand ihren Mann Walter draußen im Gartenhäuschen. Er war gerade dabei, ein Schwinge Holz für den Kaminofen aufzunehmen. Du, Walter, ein Herr Petzold von der Polizei aus Freiburg will dich sprechen. Kenn‘ ich nicht! Walter Kübler kehrte ohne Holz ins Haus zurück und griff zum Telefonhörer. Er hörte eine Weile zu. Roswitha Kübler hörte ihn sagen: Wann - das hätte ich nicht erwartet - ja, wir waren befreundet - er hat uns hier in Endingen öfters besucht - eigentlich hat er sich auf seine Pensionierung gefreut. Er hatte einiges vor - ja, ich könnte morgen vorbeikommen - danke, dass Sie mich angerufen haben.

      Frau Kübler warf einen besorgten Blick auf ihren Mann. Was ist denn los? Das hörte sich ja irgendwie nicht gut an. Walter Kübler zog sich einen Stuhl heran und stützte sich am Tisch ab. Er schüttelte den Kopf und sprach mehr zu sich als zu seiner Frau. Ich kann‘s gar nicht fassen, der Herrmann hat sich umgebracht. Frau Kübler setzte sich neben ihren Mann und sah ihm forschend ins Gesicht. Der Herrmann, ist das dein Kollege von der Bundeswehr? Was hat denn der Polizist gesagt? Man hat den Herrmann vor einer Woche tot in seiner Wohnung gefunden, er hat sich aufgehängt. Das gibt‘s doch nicht, du warst doch erst vor kurzem noch mit ihm beim Wandern! Ja, ich versteh‘ das auch nicht. Hättest du dir vorstellen können, dass der sich umbringt? Wir haben uns noch so gut unterhalten. Er wollte eine Reise machen, sich nach einem Häuschen in der Nähe umschauen. Ich fand deinen Freund ausgesprochen unterhaltsam, sagte Frau Kübler. Das passt doch irgendwie nicht, da muss irgendwas passiert sein. Hat dir der Herrmann was erzählt? Walter Kübler schüttelte den Kopf. Ich fahr‘ morgen nach Freiburg, vielleicht wissen wir dann mehr. Du kannst ja mitkommen und in der Stadt bummeln gehen, während ich im Polizeipräsidium bin. Ich mach‘ das jetzt mal mit dem Holz fertig. Roswitha Kübler blieb sitzen und dachte schon daran, ob es in Endingen wohl passende Trauerkarten zu kaufen gäbe.

      Kommissar Petzold bat seinen Besucher Platz zu nehmen. Schön, dass Sie so rasch kommen konnten, Herr Kübler. Wir sind bei der Durchsicht von Herrn Schmidts Papieren auf Ihren Namen gestoßen. Da Herr Schmidt keine Angehörigen zu haben scheint und allein lebte, sind wir gezwungen, uns an ehemalige Kollegen und Freunde zu halten. Wir möchten von Ihnen gerne wissen, wann Sie Herrn Schmidt zum letzten Mal gesehen haben und ob Ihnen da etwas an ihm aufgefallen ist. Kübler wusste, worauf der Kommissar hinaus wollte und antwortete mit einer Gegenfrage: Haben Sie denn Zweifel daran, dass sich mein Freund selbst umgebracht haben könnte. Nein, nein, wehrte Petzold ab, wir gehen von Selbstmord aus, Herr Schmidt hat sich an einem Deckenhaken in seiner Küche erhängt. Es deutet nichts auf Fremdeinwirkung hin, wir wollen nur jeden Zweifel ausschließen. Wie haben Sie denn Ihren Freund bei Ihrem letzten Zusammentreffen erlebt? Herrmann, also Herr Schmidt hat mich im November noch in Endingen besucht. Wir sind durch die Weinberge gelaufen und haben uns über seine bevorstehende Pensionierung unterhalten. Er hat angedeutet, dass er für einige Zeit etwas weiter südlich seine Zelte aufschlagen wolle. Kommissar Petzold nickte. Wir haben in seiner Wohnung entsprechende Reiseprospekte gefunden. Hat er denn Ihnen gegenüber von einem konkreten Ziel gesprochen? Nein, er hatte sich noch nicht festgelegt. Ich hatte ihn gefragt, ob

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