Das Geheimnis des Bischofs. Stefan Sethe
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Bereits vor über 1250 Jahren war das Bistum Erfurt mit jenem von Mainz vereinigt worden. 1664 wurde die einst stolze und relativ autonome Stadt Erfurt von den Mainzern unterworfen und bis 1802 von einem Kurmainzischen Statthalter regiert, der in eben jener Statthalterei residierte, wo auch an dieser Weiberfastnacht die Narren wieder ein- und ausgingen. Angesichts der über tausendjährigen Zugehörigkeit zum Erzbistum Mainz verwundert es nicht, dass das Erfurter Stadtwappen dem Mainzer Rad entlehnt ist und der Heilige Martin als Patron beider Regierungssitze herhalten muss. Die Mitgliedschaft im renommiertesten Karnevalsklub ist in beiden Städten unabdingbare Voraussetzung, um geschäftlich oder politisch ein Bein auf die Erde zu bekommen.
Weiberfastnacht ging daher auch an der Staatskanzlei wieder alles andere als spurlos vorbei. Selbst die sonst etwas spröde wirkende Tamara Edelmann hatte sich dem Trubel nicht entziehen können. Man hatte sie im grünen Hexenkostüm und schon recht angeheitert kurz nach dem Einmarsch des Erfurter Prinzenpaares im trauten Gespräch – manche sagten eng umschlungen – mit einem großwüchsigen Scheich im Burnus gesehen, der sie um fast einen halben Meter überragte. Den krönenden Abschluss des offiziellen Teiles der Karnevalssitzung hatten traditionsgemäß die Buschfunker Hans-Werner Fell und Michael Meinung bestritten, die – nomen est omen – in der Tat mit ihrer Meinung nie hinter dem Berg hielten und deshalb wohl auch seit einem Jahrzehnt nicht mehr befördert worden waren. Zu diesem Zeitpunkt hatten Hexe Edelmann und der unbekannte Scheich noch schunkelnd in den Refrain eingestimmt:
„Ja wenn bei uns der Buschfunk geht,
ist alles schon geschehen, natürlich aus Versehen,
ja wenn bei uns der Buschfunk geht,
da ist es alles schoooon zu spät!“
Bei der zugegeben nicht sehr geistvollen vorletzten Strophe:
„für die Pendler spar man die Pauschale,
fordert Neukate in so manchem Saale,
er selbst parkt im Hofe vor der Tür,
ohne Spritgeld oder Parkgebühr“
waren sie jedoch aufgestanden und im Treppenhaus verschwunden.
Danach verlor sich die Spur von Frau Dr. Edelmann.
Freitag, 20. Februar
Dass Dr. Edelmann am nächsten Tag nicht zur Arbeit erschien, war bei dieser stets korrekten und zuverlässigen Mitarbeiterin mit der streng wirkenden Brille und meist hochgesteckten Frisur zwar ungewöhnlich, aber schließlich war Karneval und Dr. Edelmann stammte aus Dachwig, einem Vorort von Erfurt, wo sie womöglich anschließend noch weiter gefeiert hatte. In der Dachwiger Narrenhalle ging es zur Faschingszeit meist besonders heftig zur Sache. Die Scherze waren dort recht zotig, und die politischen Witze - oft auf Kosten des Nachbarn - trafen mitunter derartig unter die Gürtellinie, dass man sich fragte, wer das Dorf nach Karneval jeweils wieder befrieden sollte. Die lähmende Wirkung des gefährlichen Gemischs aus Nordhäuser Doppelkorn und Braugold-Bier hielt in Dachwig nicht selten etliche Tage an.
Vielleicht war Tamara Edelmann aber auch nur in den Armen des unbekannten Scheichs versunken. Man munkelte und spottete über das ungleiche Paar, aber die Kolleginnen, und namentlich die Kollegen, gönnten ihr ein kleines oder auch größeres Abenteuer. Niemals zuvor war sie in Begleitung eines Mannes gesehen worden, was bei dieser stets freundlichen, aber mitunter etwas aseptisch wirkenden Frau schon oft zu allerlei Spekulationen Anlass gegeben hatte.
Montag, 23. Februar
Rosenmontag war Dr. Edelmann jedoch immer noch nicht wieder an ihrem Arbeitsplatz aufgetaucht. Man fand in ihrer Handtasche Auto-, Büro- und Haustürschlüssel, das Portemonnaie mit Ausweisen und Kreditkarten, und auch das Handy lag in der unverschlossenen Schreibtischschublade. Telefonisch meldete sich in ihrem Appartement in Dachwig niemand. Ein eilig nach Dachwig entsandter Wagen der Fahrbereitschaft fand im kleinen Dachgeschoss eines Fachwerkhauses neben der Kirche nur ihre ordentlich aufgeräumtes, menschenleeres Appartement vor. Aus dem Briefkasten quollen die „Thüringer Allgemeine“ vom Freitag, Samstag und Montag, das katholische Wochenblatt „Tag des Herren“, eine TeGut-Werbung und eine Telefonrechnung der Telecom. Der Käfig mit einem halb verhungerten, trübsinnigen Kanarienvogel wurde einer Kollegin übergeben.
Spätestens jetzt hätte man die Polizei einschalten sollen, wenn man sich ernsthafte Sorgen gemacht und die Hoffnung gehabt hätte, noch irgendwelche Spuren finden zu können. Aber der Chef der Staatskanzlei, Jürgen Graus, ein ungehobeltes Bübchen-Gesicht, bei dem niemand so recht wusste, wie er zu diesem Amt gekommen war, scheute öffentliches Aufsehen. Als gebürtiger Rheinland-Pfälzer, der 14 Semester in Bonn verbracht und nicht minder lang und intensiv den Kölner, später auch Mainzer Karneval studiert hatte, wisse er aus Erfahrung, dass sich solche Fälle immer schon am Aschermittwoch, spätestens Donnerstag, in Wohlgefallen auflösten. Des Wessis Wille hatte wieder einmal auch das Himmelreich für seine Untergebenen zu sein, auch wenn sie sich mittlerweile sehr ernsthafte Sorgen machten.
Freitag, 27. Februar
Erst am Freitag gegen 16 Uhr, als fast alle Bediensteten das Haus schon verlassen hatten, fand sich Graus schließlich bereit, die Polizei zu informieren. Dies geschah letztlich vor allem auf Drängen seiner engsten Mitarbeiter, die fürchteten, das Verschwinden einer Angestellten der Staatskanzlei könne unkontrolliert und womöglich reißerisch kommentiert an die Öffentlichkeit dringen.
Von Graus instruiert, ließ es die Polizei gemächlich angehen. Erst recherchierte man ebenso diskret wie vergeblich im Bekannten- und offenbar nicht vorhandenen Verwandtenkreis der Verschwundenen, dann klapperte man ebenso vergeblich die Krankenhäuser ab. Zu einer öffentlichen Fahndung konnte man sich in der Polizeidirektion nicht entschließen, nachdem sich der Leitende Oberstaatsanwalt massiv eingeschaltet hatte.
Lea Rose, eine sportliche, junge, von ihren älteren Kollegen recht unverhohlen als karrieregeil apostrophierte Kriminalkommissarin, kam immerhin noch auf die Idee, die Bänder der Überwachungskameras auszuwerten, kurz bevor sie der Löschung anheimgefallen wären. Diese Bänder förderten nach mehrmaligem Durcharbeiten Verwirrendes zutage: Frau Dr. Edelmann schien die Staatskanzlei Weiberfastnacht nicht verlassen zu haben.
Dem Videomaterial war zu entnehmen, dass die promovierte Registratorin ihre Arbeitsstelle am Weiberfastnachtsmorgen um 8.12 Uhr betreten hatte. Sie hatte den Haupteingang an der Regierungsstraße 73 benutzt. Den beigen Mantel trug sie geöffnet. In der Hand hatte sie ihre Tasche und einen kleinen Plastikbeutel, in dem sich wohl ihr Kostüm befunden haben mochte. An der Pförtnerloge hatte sie ihren Büroschlüssel in Empfang genommen und ordnungsgemäß ihre Chip-Karte durchgezogen. Dies bestätigte auch ein Computerausdruck, der die An- und Abwesenheitszeiten registrierte. Es fehlte zwar eine korrekte „Gehen“-Buchung an jenem Tag, das war aber bislang niemandem aufgefallen, da den Teilnehmern an der Karnevalsveranstaltung ein pauschales Gehen um 16 Uhr angerechnet worden war.
Zwar konnten sich auch die Pförtner nicht daran erinnern, ob und schon gar wann Frau Dr. Edelmann Weiberfastnacht das Haus verlassen hatte. Aber auch das schien nicht sehr verwunderlich. Zum einen verfügte der Gebäudekomplex, im Karree um einen großen Innenhof gebaut, über vier Ein- und Ausgänge, zum anderen fühlten sich die Männer vom Wachschutz nur dafür verantwortlich, dass nichts und niemand Fremdes unbemerkt ins Gebäude kam. Was heraus ging oder getragen wurde, fiel nicht in ihren Verantwortungsbereich.
Soweit die Theorie. In der Praxis