Ansichtskarten, Erzählungen. Wilhelm Thöring

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Ansichtskarten, Erzählungen - Wilhelm Thöring

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die alten Frauen an ihren Platz zurückgegangen sind, geht auch die kolossale Gitta mit Bodo, ihrem zaundürren Mann. Respektvoll machen die anderen Platz, sehen die beiden mitleidig an, nicken wie zustimmend.

      Ein alter Mann mit spindeldürren Beinen und einer jungenhaften Mütze auf dem Kopf meint: „Ja, ja. Auf unsere Piepen sind alle scharf. Aber sehen wollen die unsereins nicht ...“

      Er sagt das so, dass es die gewichtige Frau und ihren Mann versöhnen soll.

      Seine Begleiterin, ein junges, flachbrüstiges und aufgeschossenes Ding, unter einer ebensolchen Mütze wie der alte Mann, stößt ihn in die Seite.

      „Ach, Hans Gottfried, das war doch anders! Ganz anders!“

      Ansichtskarten

      Rheinsberg

      Es sind nicht wenige Leute in Rheinsberg, die die beiden Alten kennen. Seit vielen Jahren, vielleicht seit der Wiedervereinigung, sind sie alle Jahre einige Sommerwochen in der Stadt. Draußen in den Wäldern oder am See sind sie anzutreffen. Sie gehen immer Hand in Hand, sie wirken behutsam und liebenswürdig miteinander. Egal, wo sie auch auftauchen – der Mann geht nie ohne seinen Einkaufskorb, während sie einen handtaschenähnlichen Lederbeutel bei sich hat.

      Bei heißem Wetter sind sie jenseits des Grienericksees zu sehen. Langsam, aufrecht, mit festem Schritt spazieren sie durch den kühlen Wald. Den Vormittag verbringen die beiden beinahe jeden Tag auf dem Markt vor dem Schloss. Hier werden neben Obst und Gemüse, Schleuderware, Billigkleidung und Ramsch, auch alte Bücher angeboten. Ihnen gilt ihr Interesse. Die Alten blättern darin, lesen und machen einander auf das eine oder andere aufmerksam. Und schließlich wandert es in seinen Korb.

      Gerade hier, zwischen den von Sonnenschirmen überdachten Verkaufsständen, sind sie bekannt. Verkäufer und Herumbummelnde grüßen sie, rufen ihnen Freundlichkeiten zu.

      Heute hat der Mann unter den Büchern eine Seltenheit entdeckt. Er winkt seiner Frau, die sich am anderen Ende des Standes über eine Kiste beugt.

      „Sieh einmal: Die Undset!“, ruft er. „Olaf Audunsson!“

      Die Frau ist begeistert.

      „Eine Perle!“, ruft sie. „Wilhelm, das Buch gehört uns!“

      „Das meine ich!“

      Als sie bei ihm ist, sagt er: „Der Streit wird losgehen, wer es zuerst lesen darf.“

      „Natürlich der Finder“, sagt sie großzügig.

      Er legt einen Arm um ihre Schulter, küsst ihre Schläfe.

      „Wilhelm, ich brauche noch einige Ansichtskarten.“

      „Da, beim Ratskeller. Gehen wir.“

      Vom Schlosshof dröhnt Musik herüber, dann bricht sie schlagartig ab. Heute Abend ist die Generalprobe zu Monteverdis „Il ritorno d’Ulisse in Patria“. Um Störungen zu vermeiden, ist heute der ganze Innenbereich des Städtchens abgesperrt, auch Wachen sind aufgestellt worden.

      Manchmal ist das alte Paar in den Schlosshof gegangen, um den Proben zuzusehen. Andere kamen, saßen irgendwo, besprachen sich leise, wunderten sich, wie oft manche Szenen durchgespielt werden mussten. In der Oper agierten durchweg junge Sänger. Einige hatten quer durch den Schlosshof zu hetzen, andere rollten auf Rhönrädern herein. Ein Sänger sollte, so sah es aus, ins Wasser stürzen ...

      Beim Kartenkauf weiß die Frau genau, was sie will: Zielsicher zieht sie drei, vier Ansichtskarten aus dem Ständer.

      „Na, wie findest du die?“, fragt sie den Mann.

      „Ansichtskarte ist Ansichtskarte.“

      „Finde ich nicht, hier ...“ Die Frau fingert eine andere hervor. „Hier – nichts als abgelichtete Kulisse, Wilhelm. Wie eine Bühne ohne Schauspieler, ohne Sänger“, fügt sie hinzu. „Solche Karten sind fade, sind ohne Leben.“

      Mit schiefem Kopf betrachtet der Mann die Karten, dann seine Frau. „Ja, so ..., so kann man es auch sehen ...“, sagt er noch nicht überzeugt. „Aber wichtig, sage ich dir, wichtig ist die Botschaft. Ist der Text. Nicht das Bild.“

      Die Frau setzt noch eins drauf, sie muss ihn zu ihrer Ansicht bekehren. Sie beharrt: „Die meisten Maler, Wilhelm, haben in den Vordergrund ihrer Landschaften Leben hineingemalt. Feines Leben oder pralles Leben. Und manchmal auch derbes ... Wir kennen Bilder, Wilhelm, da konnten wir geradezu Acker- oder Kuhgeruch einatmen.“

      Der Mann hebt zweifelnd die Schultern.

      „Ach, Lucie, Karte ist Karte“, sagt er noch einmal.

      Die Frau schwenkt eine Karte. Hartnäckig fährt sie fort: „Hier, Rheinsberg! Das Schloss ..., aber davor der Markt. So wie wir Rheinsberg kennen. Und hier: die kleine hässliche Straße. Du kennst sie, Wilhelm. Die, die da drüben am See endet. Links und rechts die heruntergekommenen Häuser, schiefe Fensterläden, hängende Dachrinnen, aber da unten, Wilhelm: Leben! Menschen, die ein Boot ins Wasser schieben!“

      Aus dem Schlosshof klingt Penelopes Klage. Auf dem Markt wird es still, die Leute horchen auf. Ein Pferd vor seinem Wagen, das bewegt werden möchte, wiehert dagegen an.

      „Diese herrliche Musik“, sagt die Frau. „Wie freu’ ich mich auf die Oper.“

      „Bis morgen Abend musst du noch warten, Lucie. Ist das nicht ein schöner Abschluss unserer Ferien?“

      Die Frau nickt, dann wendet sie sich dem Kiosk zu, um die Ansichtskarten zu bezahlen.

      Späte Rückkehr

      Dresden

      „Nun, da bin ich“, flüstert Jakob Steinberger. Das sagt er immer wieder, wenn er in dieser Stadt an einem neuen Platz angelangt ist.

      Vor drei Tagen ist Jakob Steinberger in seine ehemalige Heimat gekommen. „Meine gewesene Heimat“, wie er sagt. Er ist in Deutschland, um es genauer zu sagen: er steht auf der Brühlschen Terrasse in Dresden.

      Jakob Steinberger ist ein alter Herr, im nächsten Jahr wird er achtzig.

      „Nu, wenn du fahren willst, dann fahr“, hat seine Frau Rosel gesagt. „Der Allmächtige allein weiß, wie lange du noch dazwischen herumgehen kannst. Später ...“ Sie hat nicht ausgesprochen, was sie mit später meinte. Aber Jakob Steinberger wusste es.

      So ist er gefahren.

      Seit über fünfzig Jahren lebt Jakob Steinberger in Israel, seiner angestammten Heimat. Deutschland – das lag so weit weg. Die Erinnerungen glichen teils schönen, teils beklemmenden, Angst machenden Träumen. Diesen Träumen wollte er am Ende seines Lebens nachgehen.

      Vieles hat Jakob Steinberger schon in Augenschein genommen: die Semperoper, den Zwinger, im Stallhof des Schlosses ist er gewesen, und an seiner Außenseite betrachtete er Ludwig Richters Fürstenzug. In der Hofkirche hat er dem übenden Organisten gelauscht. Gestern Abend wollte er an der Frauenkirche den Arbeitern zusehen. Er sah sie nicht, nur grelle Scheinwerfer, die den Handwerkern geleuchtet haben. Ihre Rufe konnte er hören, ihre Maschinen. Dann

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