Ansichtskarten, Erzählungen. Wilhelm Thöring
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Читать онлайн книгу Ansichtskarten, Erzählungen - Wilhelm Thöring страница 6
Jakob Steinberger erzählt leise und mit größeren Pausen. Die jungen Leute sitzen vorgebeugt, lauschen und vergessen zu trinken und haben wohl auch einander vergessen. Noch während der alte Mann spricht, hat die junge Frau ein Zittern überfallen. Zusammengekauert sitzt sie, die Hände unter die Achseln gepresst, als fröre sie.
„Warum sind Sie hergekommen?“, fragt sie endlich. „Warum quälen Sie sich?“
„Quälen? Junge Frau ... Ich sage es einmal so: es ist, als würde ich eine alte Wunde aufstechen und den Eiter herausdrücken. Oder: man entschließt sich, einen peinigenden Körperteil zu amputieren.“
Der junge Mann hat seinen Kopf aufgestützt, die Tätowierung hält er verdeckt. Er blickt an dem alten Mann vorbei ins Leere, als dächte er nach. Die junge Frau öffnet den Mund, will etwas fragen, aber sie fragt nicht.
Jakob Steinberger hält die Augen geschlossen. Es ist das erste Mal, dass er fremden Menschen in diesem Land seine Geschichte erzählt hat, Menschen, die nach denen gekommen sind, die ihn gequält, die getötet haben. Ihm ist, als hätte er sich vor den beiden jungen Menschen, die so glücklich an seinen Tisch gekommen sind, entblößt.
„Verzeihen Sie mir.“ Seine Stimme klingt müde, gebrochen. „Ihr fröhlicher Tag hat durch mein Erzählen keinen fröhlichen Ausklang. Es tut mir leid. Es ist doch Ihr Verlobungstag. Vielleicht bereuen Sie, dass Sie an diesem Tag zu mir an den Tisch gekommen sind.“
Die jungen Leute schweigen, dann schüttelt einer nach dem anderen den Kopf, aber keiner wagt es, den alten Mann anzublicken, keiner weiß etwas zu sagen.
So zahlt er denn. Und als er gehen will, bitten die beiden, ihn ein Stück begleiten zu dürfen. Auf dem Weg bleiben sie stumm. Den alten Mann haben sie in ihre Mitte genommen. Am Neustädter Markt müssen sie sich trennen.
„Werden Sie glücklich“, sagt Jakob Steinberger, ihnen beide Hände hinstreckend. „Ich wünsche es Ihnen. Und ein langes Leben! Das auch!“
„Danke.“ Der junge Mann drückt ihm vorsichtig die Hand, als könnte er etwas an dem Alten zerbrechen. „Danke für alles. Und: Leben Sie besser, wenn Sie nach Israel zurückkommen.“
Abwartend, befangen steht das Mädchen daneben. Da nimmt sie Jakob Steinberger unversehens in die Arme und küsst ihn und läuft fort.
Der junge Mann verneigt sich kurz wie zur Bekräftigung, dann folgt er gemächlich seiner Braut.
Jakob Steinberger sieht den beiden nach, und bald schon kann er sie nicht mehr erkennen. Nur die Schuhe der jungen Frau hört er noch einen Moment auf dem Pflaster. Dann sind sie irgendwo in der Dunkelheit, hinter dem Reiterstandbild des starken August, verschwunden.
Frauengespräch
Im Münsterland
Hier auf der Höhe wird das Land weit. Beiderseits der Straße Felder, dazwischen dunkle Büsche. Und rechts auf dem Hügel, unerschütterlich und dominant, die Benediktinerabtei. Wie eine abweisende Burg, denkt die Frau. Uneinnehmbar, als hätte Gott sich darin verschanzt. Das werde ich mir ansehen!
Sie ist nicht mehr jung. Nicht einmal ihr ungefähres Alter ist zu erraten. Das Haar trägt sie offen, es fällt ihr auf die Schulter, ein merkwürdiges Gemisch aus blond und grau.
Sie fährt ein Wohnmobil. Gemächlich steuert sie die Abtei an. Jetzt muss sie abbiegen.
Nach ein paar Metern zwingt eine Schafherde sie anzuhalten. Als graue, sich drängende Lawine überquert die Herde die Straße. An beiden Seiten patrouillieren Hunde, wachsam und flink, wissend, worauf es ankommt. Ganz am Ende stapft ein Mensch, versteckt unter einem breitkrempigen Hut, im knielangen Lodencape, mit Umhängetasche und Stab.
Das wird dauern, denkt die ältliche Fahrerin. Sie kennt solche Herden. Sie kennt Schaf- und Ziegenherden, größer als diese. Auch Scharen von Eseln und Kamelen hat sie gesehen, und einmal querte sogar eine Schweineherde vor ihr die Straße. Das war im Hessischen.
Als der nachstapfende Mensch die Straße überquert hat, zieht er als Dank vor der Autofahrerin seinen Hut und gibt sich als Frau zu erkennen. Die Fahrerin kurbelt die Scheibe ganz herunter. „Das ist ja eine Überraschung! Ich habe sie für einen Mann gehalten!“
Lachend schüttelt die Hirtin ihr blondes Haar, dass es nur so um ihr Gesicht fliegt.
„Für mich ist es Zeit, einen Tee zu trinken“, ruft die Fahrerin. „Darf ich Sie dazu einladen?“
Die Hirtin klemmt ihren Hut vor der Brust auf das Cape. „Gerne.“
„Ich muss aber die Straße frei machen“, ruft die Autofahrerin. „Ich parke hier drüben am Feldweg.“
„Gut! Ich komme.“
Die Fahrerin ist eine alte Frau, schlank, fast mager. Unter dem wehenden, langen Kleid sind ihre Knochen zu erkennen. Im Nu hat sie einen Campingtisch und zwei Klappstühle vor das Auto gestellt. Sie rupft Kamille und Wegwarte und stellt sie in einem Wasserglas auf das Tischchen. Erklärend ruft sie der Jüngeren entgegen: „Ein bisschen gemütlich soll’s schon sein. Es kommt nicht alle Tage vor, dass ich in Gesellschaft meinen Tee trinke.“
Die Jüngere wirft ihr Cape ins Gras. In Hosen und dem karierten Männerhemd sieht sie wie jemand aus, der Landmaschinen vorführen soll. Sie ist schlank und wirkt viel größer als unter dem Umhang. Plötzlich bleibt sie stehen, ruft: „Darf ich überhaupt näher kommen?“
„Ach so! Kommen sie nur. Bei Ihnen ist der harmlos!“ lacht die alte Frau.
In der Tür des Wohnwagens ist ein riesenhafter zottiger Hund aufgetaucht. Hechelnd, mit dem ganzen Körper bebend, beobachtet der die fremde Frau.
„Mein Reisekumpan. Ein Irischer Wolfshund! Kommen Sie nur. Er kennt das, dass ich hin und wieder jemanden zu mir einlade. Außerdem spürt er sogleich, wer willkommen ist und wer nicht. Bitte!“ Die alte Frau deutet auf einen Klappstuhl, die Jüngere setzt sich. Den Riesenhund behält sie vorsichtshalber im Auge.
„Vor normalen Hunden habe ich keine Scheu“, sagt sie. „Aber dieser ist doch gar zu groß. Furcht einflößend!“
„Das ist der Ergo, der Strolch. Würde er Gefahr wittern, dann hätte er sie gar nicht bis ans Auto gelassen. Der Tee ist gleich fertig.“ Sie verschwindet im Innern des Wohnwagens.
„Können Sie die Herde sich selbst überlassen?“, ruft sie nach draußen.
„Ich habe sie im Blick!“, ruft die Junge zurück. „Und außerdem sind die Hunde da. Auf die ist Verlass.“
Die alte Frau stellt Geschirr auf das Tischchen, dann holt sie den Tee und einen Teller mit Keksen.
„Sie haben einen interessanten Beruf“, sagt sie. „Schäfer – das ist doch ein Beruf?“
„Ja.“ – Dann: „Tierzüchter, so nennen wir uns heute.“
„Tierzüchter! Mit Ausbildung und allem, was so dazu gehört?“
„Ja.“
„Sie machen mich neugierig“, sagt die alte Frau und gießt Tee ein. „Eine junge Frau wie Sie ... Mit