Ansichtskarten, Erzählungen. Wilhelm Thöring
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„Und Ihre Eltern?“, fragt die alte Frau. „Waren die mit dieser Berufswahl einverstanden? Oder gehört denen die Herde?“
Die Junge lacht und lehnt sich zurück. „Tiere? Bei uns gab es außer einem Kanarienvogel und ein paar Fischen keine Tiere. Allerdings: mein Vater hat auch Schafe zu weiden – seine Gemeinde. Er ist Pastor. Also auch ein Hirte ...“ Sie lacht darüber.
Ergo kommt zu ihr, beschnuppert ihren Arm, ihren Nacken, dann lässt er sich neben der alten Frau ins Gras fallen.
Die Jüngere beginnt zu erzählen: „Meine Eltern hätten es gerne gesehen, wenn ich den Fußstapfen meines Vaters gefolgt wäre. – Aber nein!“ Sie erhebt sich, um einen Blick auf ihre Tiere zu werfen. „Ich wollte frei, ohne Zwänge leben. Auch ohne Menschen leben und ohne die feste Ordnung, die zu einem bürgerlichen Alltag gehört. Und erst recht nicht in den Zwängen einer Gemeinde. Die macht krank, glauben Sie mir.“ Sie nickt wissend. „Nach dem Abitur habe ich mich nach einer solchen Möglichkeit umgesehen, und ich habe sie gefunden. Ja, ich wollte weiden – aber keine Menschen, sondern Schafe. Alle hielten mich für verrückt, als ich mit meinem Plan herausrückte. Und sie waren überzeugt, dass ich nach wenigen Monaten die Flinte ins Korn werfen würde. Und jetzt“, sie streichelt im Schoß ihre sonnenverbrannten Hände, „jetzt ziehe ich mit meiner Herde schon über drei Jahre durch die wunderbare Natur. Hier lebe ich ... hier bin ich zufrieden, ja, glücklich. Ich habe die richtige Wahl getroffen.“
„Und später einmal?“, fragt die alte Frau. „Vielleicht heiraten ... Und, sehen Sie mich an: man wird älter!“
Die Jüngere lacht. „Alles findet sich, wenn es so weit ist. Und dann, das glaube ich, dann werde ich auch wieder die richtige Entscheidung treffen.“
Die alte Frau sieht sie fest an, als suche sie etwas in ihrem Gesicht, als müsste sie ein Geheimnis herausfinden. Ihr Zeigefinger umkreist den Tassenrand. Nach längerer Pause sagt sie: „Sie gefallen mir. Ich finde, Sie und ich, wir sind aus sehr ähnlichem Holz geschnitzt.“
Die Jüngere lächelt dünn. „Aus demselben Holz?“ fragt sie. Wie soll sie das verstehen. Sie möchte fragen, weiß aber nicht so recht, was. Schließlich erklärt die alte Frau:
„In meinem Leben gibt es Parallelen zu Ihrem Leben. Ich erkläre es Ihnen: um zu begreifen, wie ich zu leben habe – dazu habe ich beinahe siebzig Jahre gebraucht. Denn es ist so: wie ein Leben eingerichtet werden soll – das bestimmen andere. Die Eltern, Geschwister, die Großeltern, die Lehrer, die Gesellschaft und viele mehr. Kurz: die Gemeinschaft, in die wir hineingeboren werden, die macht aus einem jungen Menschen, was er zu werden und zu sein hat. Es hat so zu sein, weil es immer so war. Darum ist es auch für dich richtig. Basta! – Mögen Sie noch Tee?“
Die Jüngere hält ihre Tasse über den Tisch.
„Und wir spielen mit, weil wir nicht ausbrechen können. Nein, weil wir zu feige sind. Früh schon werden wir auf eine berufliche, auch auf eine gesellschaftliche Richtung und Rolle festgelegt. ‚Du hast eine gute Art, mit Kindern umzugehen. Bestimmt wirst du einmal Erzieherin. Oder Lehrerin. Vielleicht sogar Kinderärztin. Und wenn du einmal eigene Kinder hast ... Nein, was wirst du für eine Mutter sein!’
Fällt die Entscheidung anders aus, dann stürzt der Himmel ein. Damals jedenfalls, als meine Generation vor solchen Entscheidungen stand. Man lässt sich darauf ein. Warum auch nicht? Die Alten haben Erfahrung. Haben Weitblick. Sie kennen dich durch und durch. Wird schon richtig sein, was die sagen. Kann man denn Bewährtes einfach beiseite schieben? Soll man es?
Ich habe gehorcht. Wie viele. Wie die meisten. Ich habe studiert und bis zu meiner Pensionierung unterrichtet. Deutsch, Latein und Geschichte ...“
Sie lehnt sich zurück, verschränkt ihre Arme hinter dem Kopf und blickt in den Himmel.
„Geheiratet habe ich auch, bin dreimal Mutter geworden. Die Verantwortlichen für mein Leben hätten zufrieden sein können, wenn sie es bis zu meiner Verabschiedung aus dem Beruf miterlebt hätten.“
Die Jüngere reckt sich hin und wieder in die Höhe. Jetzt geht sie einige Schritte auf die Herde zu, pfeift den Hunden, wartet kurz und kehrt dann an ihren Platz zurück.
„Tja, aber was dann gekommen ist!“ Die alte Frau lacht und schlägt mit der Hand auf das Tischchen, dass die Tassen klirren.
„Mein Mann ist schon seit Jahren tot. Die Kinder erwachsen, haben sich über die Welt verstreut ... Denen allen habe ich ein Schnippchen geschlagen: den Kindern, den Freunden, den wenigen Kollegen, mit denen ich in Kontakt geblieben bin. Gute zwei Jahre habe ich als Pensionärin gelebt, dann fühlte ich mich plötzlich wie im lauen, ermüdenden und faden Badewasser. Um es kurz zu machen: ich habe mir dieses Wohnmobil und den Ergo angeschafft, habe mein Haus samt Einrichtung verkauft, habe sogar verschenkt, was mir ans Herz gewachsen war. – Das gab einen Skandal! Aber: Augen zu und durch! Das verständnislose Gerede meiner Kinder habe ich über mich ergehen lassen, habe geregelt, was geregelt werden muss und bin in die Welt hinausgezogen. Frei und ohne Bindung an Menschen oder irgendwelche Dinge.“ Sie schließt die Augen, schweigt. Dann: „Über den Balkan bin ich gefahren, in die Türkei ... Was gab es da nicht alles zu erleben! – Zuletzt war ich bei den Kasachen. Bis nach Alma Ata bin ich gefahren. Denken Sie nur. Steppen und Wüsten, unvorstellbare Flüsse, groß wie Seen. Großer Gott! Manchmal ist mir, als träume ich das alles. Und das mit zweiundsiebzig Jahren! Stellen Sie sich das vor! Ein altes Weib lässt sich auf solche abenteuerliche Verrücktheiten ein.“
Die Jüngere beugt sich vor, legt ihre Hand auf den Arm der alten Frau. „Ja, aber sie hocken nicht mehr in lauem Badewasser. Sie schwimmen jetzt ... Sie schwimmen in einem klaren, in einem frischen, einem reißenden Fluss.“
„Ja, ja, genau so ist es. Wie Recht Sie haben!“ Dann mit leuchtenden Augen: „Sehen Sie, dass wir einander ähnlich sind? Sie gehen Ihren Weg direkt, Sie haben ihn sehr früh in Ihrem Leben gefunden. Ich habe Umwege machen müssen. Aber wir haben es gewagt! Man muss nur in sich hineinhorchen, sich selbst erkunden und ein wenig Mut aufbringen.“
Sie beugt sich über ihren riesenhaften Hund. „Und dass es da draußen bis heute gut gegangen ist – das liegt auch an dir, Ergo.“
Der Hund wedelt mit dem Schwanz, richtet sich halb auf, schnauft und lässt seinen Körper klatschend ins Gras zurückfallen.
„Nachher gehen wir zum Kloster. Mal sehen, Ergo, was es da zu entdecken gibt.“
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