Die Bärin Roman. Wilhelm Thöring

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Die Bärin  Roman - Wilhelm Thöring

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      Gegen Abend, es ist schon lange dunkel, gehen alle in die Kirche, nur Bruno fehlt, und die Großmutter hofft, dass er vorausgegangen ist. Aber in der übervollen, in der dämmerigen Kirche kann sie ihren Sohn nicht sehen. Heute ist der ganze Kirchenraum für die Gottesdienste hergerichtet. Pastor Mildenberg hatte mit dem Auftauchen der Flüchtlinge einen Teil abtrennen und mit Stroh füllen lassen, um ihnen eine vorübergehende Bleibe zu bieten. An diesem Tag ist die Kirche wieder Kirche, vollgestellt mit Bänken, mit Kerzen auf dem Altar; seitlich davon steht eine fast bis an die Decke reichende Tanne mit einigen Strohsternen. Zwischen den Bänken und in den Ecken sind noch Reste vom Stroh zu sehen, aber wo die Flüchtlinge geblieben sind, das weiß keiner. Es geht das Gerücht, dass der Pastor sie alle in sein Pfarrhaus geholt habe, das vom Keller bis zum Dachboden mit Menschen vollgestopft sei. Pastor Mildenberg sieht alt aus, und er ist mager geworden, aber seine Stimme kommt der Gemeinde wie eine Posaune vor, die von der Kanzel herunter lautstark die Botschaft vom Frieden, von Versöhnung und Gottes-und Menschenliebe bis in den hintersten Winkel verkündet: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen! Diese Worte ruft er immer wieder, so dass einige in der Gemeinde sie leise mitsprechen.

      Was für eine kräftige Stimme noch in diesem kläglich gewordenen Menschen steckt! Andächtig lauschen sie, die einen wischen ihre Augen, andere schnäuzen sich immerzu, wieder andere sitzen bewegt und nickend und versuchen Ordnung in ihren Kopf zu bekommen, der voller Gedanken und Erinnerungen ist.

      Während des Gottesdienstes laufen die Tränen über die Wangen der Großmutter, und die Mutter hält die ganze Zeit ihr Taschentuch an den Mund gepresst; nur der Großvater sitzt da, vornüber gebeugt, die Hände im Schoß, als halte er einen Schuh, der frisch besohlt werden müsse. Die Kinder langweilen sich und würden gerne etwas fragen, aber das sonderbare Verhalten von Großmutter und Mutter macht sie scheu und lässt es nicht zu. So schweigen sie und betrachten den riesenhaften Tannenbaum mit den sich drehenden und schaukelnden Strohsternen.

      Die Wohnung ist dunkel und immer noch sehr heiß, als sie nach Hause kommen, und vom Bruno ist auch hier nichts zu sehen. Sie essen ihr Weihnachtsessen, Stampfkartoffeln und eine süßsäuerliche Tunke, in der Reste einer Handvoll zerfaserter Backpflaumen schwimmen. Während der Abendmahlzeit sagt die Großmutter, dass alle, außer dem Großvater, sich zurückziehen sollten, weil das Christkind kommen werde. Als Ursula mit den drei Kindern in ihrer Schlafstube wartet, entsteht Unruhe und auch Lärm in der Stube nebenan, in der die Großmutter zu hören ist. Es ist der Bruno, der am Arm seines Mädchens gekommen ist.

      „Dass du in einem solchen Zustand kommst, das habe ich nicht von dir erwartet! Nein, Bruno, das habe ich dir nicht zugetraut!“, schimpft die Großmutter. Der Bruno gibt ihr eine merkwürdig klingende Antwort, worauf die Großmutter ihn anfährt: „Dass du dich an diesem Abend besäufst, Bruno! Schande über dich! Und Sie, Sie bringen ihn mir auch noch ins Haus! Hätten Sie ihn doch gelassen, wo er das gefunden hat, wonach er suchte! Unsere erste Friedensweihnacht, die habe ich mir anders vorgestellt!“ Eine fremde, weibliche Stimme versucht, etwas zu erklären. Die Großmutter ist still, der Großvater antwortet der Fremden so ruhig und bedächtig, dass niemand wagt, den Mund aufzutun und etwas dagegen zu sagen. Für längere Zeit kann Ursula nichts mehr hören, dann wird die Wohnungstür krachend zugezogen, und sie bekommt mit, wie die Eltern sich leise besprechen. Es dauert lange, bis die Großmutter die Tür zur Schlafstube öffnet und seltsam verärgert sagt: „Nun kommt einmal herüber. Ihr seid beschert worden.“

      Der Tochter flüstert sie zu: „Es war der Bruno, der gekommen ist. Jetzt ist er wieder fort.“

      In der Zimmerecke neben der Balkontür steht ein kleiner Tannenbaum auf einem Stuhl, ein Tannenbaum mit einigen Lichtern und Flitterschmuck aus buntem, glänzendem Papier. Die Kinder drücken sich fassungslos an die Mutter und starren dieses Wunder an, und die Großmutter lehnt sich mit feuchten Augen an den Türrahmen und wischt ihr Gesicht. Auch die Mutter weint. Sie weint ohne einen Laut, nur ihre Schultern werden wie von einer unsichtbaren Hand geschüttelt. Schließlich sagt der Großvater, der sich an den Tisch gesetzt hat: „So weint doch nicht. Das hier ist keine Beerdigung, es ist Weihnachten. Danach habt ihr euch doch gesehnt, Mutter, Urschel! Uns wird kein Alarm, kein Flieger stören...“

      „Nein, die nicht, die nicht, aber...“, antwortet die Großmutter bitter. „Da gibt es anderes...!“

      Sie schluckt ein paar Mal und seufzt, dann scheint sie sich gefasst zu haben, denn sie schlägt vor, ein Weihnachtslied zu singen. Die Mutter sträubt sich, ihr sei nicht nach Singen zumute.

      „Willst du wie alle anderen Abende am Tisch sitzen? Es ist Weihnachten, und zu Weihnachten, Urschel, wird gesungen!“, entscheidet sie. „Wir singen: ‚Vom Himmel hoch, da komm ich her’. Das ist ein Lied, das auch die Kinder verstehen. Wir haben es heute Abend schon in der Kirche gesungen...“ Mit ihrer brüchigen Stimme beginnt sie zu singen, und nach und nach fallen die Mutter und der Großvater ein, und sogar der Wolfgang erinnert sich an die eine oder andere Liedzeile.

      Nach der dritten oder vierten Strophe ist ihnen der Text entfallen, da nimmt die Großmutter das Marlenchen an die Hand und führt es an den Tannenbaum. „Das ist für dich, mein Kind.“ Sie zeigt auf eines der drei Häuflein, die mit einem Handtuch zugedeckt sind. Darunter sitzt Marlenchens Stoffpuppe! Die vermisste und unauffindbare Stoffpuppe ist wieder da! Jetzt sitzt sie in neuen Kleidern zwischen einem Schal und ein Paar Handschuhen auf einer Milchsatte mit dunkelbraunen Keksen und schwarzen, splitterigen Bonbons, als säße sie auf dem Töpfchen. Dann holt die Großmutter Achim, zuletzt den Wolfgang. Der Achim hat einen bunten Blechpapagei bekommen, der auf einem Gestell sitzt und bei der leisesten Berührung zu schaukeln anfängt.

      „Du bist groß, bist ein Schulkind“, sagt die Großmutter und zieht das Handtuch von Wolfgangs Häufchen: „Für dich ist etwas Kostbares abgegeben worden. Sieh einmal!“ Es ist ein Buch, das über seine Satte gelegt worden ist, halb Bilderbuch, halb Lesebuch, mit kurzen, zweizeiligen Versen. „Das kannst du lesen, das kannst du auch auswendig lernen...“

      Jedes Kind hat seine Satte mit den abgezählten Süßigkeiten, die auch alle gleich groß sind. Als Überraschung liegt bei beiden Jungen der Pullover, dessen Ärmel von der Mutter neu angestrickt wurden, sowie ein Paar lange Strümpfe und neue Leibchen. Die Mutter besteht darauf, sie sogleich anzuziehen. „Es ist Weihnachten“, sagt sie. „Da dürft ihr ruhig adrett aussehen. Ihr bleibt ja in der Stube und geht nicht nach draußen – also werden die feinen Sachen auch nicht schmutzig gemacht.“

      Sie kann es kaum erwarten, die Jungen in den ausgebesserten Pullovern zu sehen und hilft ihnen beim Umziehen. Dann tritt sie ein paar Schritte zurück, um sie zu begutachten. „Es passt, und gut seht ihr darin aus!“, ruft sie und schiebt beide vor die Großmutter, dass auch sie sie betrachten kann.

      „Wie das kratzt“, jammert Achim und er fährt mit beiden Händen in die Strümpfe.

      „Was kratzt?“

      „Die Strümpfe.“

      „Quatsch! Die kratzen nicht. Du bist es nur nicht gewohnt, solche Strümpfe zu tragen. In ein paar Stunden hast du dich daran gewöhnt“, sagt die Mutter und wendet sich dem Wolfgang zu. „Gefallen sie dir, Wolfgang?“

      „Es stimmt, was der Achim sagt: Die Strümpfe kratzen.“

      „Jetzt fang du auch damit an!“, ruft die Mutter gereizt. „In diesen Zeiten muss man nehmen, was man kriegt! Da kann niemand wählerisch sein! Wir sind es auch nicht!“ Mit ihrem Kinn deutet sie zu den Großeltern. „Ja, wisst ihr denn, was wir aushalten? Großmutter, Großvater und ich?“

      Die Jungen verlieren kein Wort mehr über diese Angelegenheit, sie sitzen mit ihren Geschenken in der Ecke, aber sie spielen nicht. Als die Großmutter nach ihnen sieht,

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