Der Golan-Marathon. Yassin Nasri

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Der Golan-Marathon - Yassin Nasri

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denen man draußen sitzen konnte. Er genoss den Ausblick, denn von der Terrasse aus konnte man sogar die Skyline der Stadt Frankfurt sehen.

      „Kaffee ist fertig!“, rief Muna aus dem Wohnzimmer.

      Andy rührte sich kaum. Als er sich gerade aufraffte, um aufzustehen und sich in Richtung Wohnzimmertür zu bewegen, legte seine Mutter nach: „Komm endlich rein! Du wirst in Aleppo genug Sonne abbekommen.“

      Andy konnte mit seiner Antwort nicht warten, bis er im Haus war. Er stand noch im Türrahmen zum Wohnzimmer und rief hinein: „Schön wär‘s! Leider werde ich die syrische Sonne kaum auf meinem Gesicht spüren, nicht mal auf dem Weg zur Messe, denn das Hotel und die Hallen liegen alle auf dem Flughafenareal.“

      „Du Armer, das tut mir aber leid für dich“, sagte seine Mutter sarkastisch. Osama, der schon auf dem Sofa saß, mischte sich in das Gespräch ein: „Hättest du nicht Lust, einige Tage dranzuhängen, um Land und Leute kennenzulernen?“

      „Das hört sich aber sehr nach einem Vorschlag an“, spottete Andy. Man sah ihm die Verwunderung über die Frage seines Vaters an.

      „Ich meine, wenn du schon mal da bist …“

      „Dass eine solche Empfehlung von dir kommt, finde ich höchst seltsam“, bemerkte Andy auf eine ungeschliffene Art. „In den achtundzwanzig Jahren meines Lebens haben du und Mutter euch stets verweigert, mit mir oder ohne mich nach Syrien zu reisen. Man könnte fast meinen, dass ihr die Existenz Syriens auf der Weltkarte leugnet. Und jetzt auf einmal gibt es dieses Land wieder und kann bereist und erkundet werden!“ Sarkasmus war eher kein Charakterzug von ihm. Er war daher von seiner verbalen Attacke selbst überrascht.

      „Ach was, Andy!“, reagierte sein Vater beleidigt. „Wir haben dir die Reise weder empfohlen noch gewünscht, schließlich bist du dort doch beruflich unterwegs. Unabhängig davon weißt du ganz genau, warum wir Syrien all die Jahre gemieden haben.“

      In der Tat kannte Andy einige der Gründe, derentwegen seine Eltern seit dreißig Jahren, also schon vor seiner Geburt, keinen Fuß auf syrischen Boden gesetzt hatten. Diese sprachen seine Eltern immer wieder an. Sobald er als Kind eine Frage zur Heimat stellte, wiederholten sie gebetsmühlenartig, dass die Gründe in ihrer Vergangenheit zu suchen seien. Diese klangen immer auf eine verblüffende Art überzeugend, sodass bei Andy nie der Wunsch aufkam, dieses Land kennenzulernen. Rückblickend betrachtet war es fast so, als ob er auf einer Insel leben würde und die Eltern ihn das Meer, das ihn umgab und den Weg in die Welt bedeutete, fürchten lehrten.

      „Was ich dich immer mal fragen wollte, Papa: Hast du überhaupt Heimweh oder jemals Sehnsucht nach Syrien gehabt?“

      Der Vater schlürfte aus seiner Mokkatasse und schwieg.

      Die schwere Last der Vergangenheit

      Osama stammte aus Damaskus. Als junger Bursche war er in gewisser Weise ausgeflippt, ein politischer Mensch war er aber nie. Er spielte Gitarre in einer lokalen Hardrock-Band, verehrte Iron Maiden und war dazu ein Computer- und Internetfreak. Er bloggte und chattete intensiv mit anderen jungen Menschen aus der ganzen Welt, einschließlich der USA und Israel. Es war die jugendliche Neugier auf die Welt und ihre Vielfältigkeit, weshalb Osama damals den Kontakt unter anderem zu den Amerikanern und Israelis suchte. Ihre Unterhaltungen drehten sich um Themen wie Musik, Mode, Technik, Freundschaft und Liebe. Der syrische Staat sah darin jedoch eine potenzielle Gefahr, denn diese Art von Kommunikation könnte irgendwann in einem Austausch über Freiheit und Menschenrechte münden. Vorsorglich wurde Osama verhaftet und verschwand für mehr als ein Jahr in den Kellern der Geheimdienste von Bashar al-Assad, wo er alle möglichen Verhörmethoden über sich ergehen lassen musste, inklusive Folter und Misshandlungen. Der offizielle Vorwurf gegen ihn lautete: „Kontaktaufnahme zu dem zionistischen Feind.“

      Munas Heimat war Aleppo, die zweitgrößte Metropole Syriens. An der dortigen Universität fing sie an, Freie Kunst zu studieren. Auf einer Heavy Metal Party in Damaskus, wo Osama mit seiner Band auftrat, lernten sie sich kennen und verliebten sich sofort ineinander. Seinetwegen wechselte sie nach kurzer Zeit zur Universität in Damaskus. Es dauerte nicht lange, bis sich die zwei jungen, verrückten Seelen verlobten und heirateten. Von der Hochzeit der beiden damals Zweiundzwanzigjährigen sprach die ganze Stadt – in erster Linie die Damaszener Jugend: Das Paar sprengte alle religiösen und kulturellen Regeln und Maßstäbe, weil sie bei der Hochzeit weder den traditionellen Bräutigamszug namens „Zaffe“ noch islamische Bräuche zuließen. Auf der Feier spielte zur Überraschung aller Gäste Osamas Band Musik von Iron Maiden, Metallica und Danzig. Die Krönung der Party war der Auftritt des Bräutigams mit nacktem Oberkörper. Alle älteren Gäste, darunter die Onkel und Tanten des Ehepaares, verließen augenblicklich die Gesellschaft. Nur die Jungen blieben und tanzten auf den Tischen, einschließlich der Braut selbst. Osamas und Munas Verhalten mitten im arabisch islamischen Damaskus war revolutionär.

      Die anschließende Hochzeitsreise der beiden scheiterte schon an der syrisch-türkischen Grenze. Dort wurden Muna und Osama seitens der syrischen Grenzbeamten an der Ausreise gehindert und Osama festgenommen. Inwiefern die diesmalige Verhaftung mit der Hochzeitsparty zu tun hatte oder ob andere Gründe ursächlich dafür waren, erfuhr Osama nicht. Als er nach einer Woche aus dem Gefängnis entlassen wurde, nutzte er die erstbeste Gelegenheit, um mit Muna aus dem Land zu fliehen. Seitdem hatten sie keinen Fuß mehr auf syrischen Boden gesetzt. Kontakt zu ihren Verwandten in Aleppo und Damaskus besaßen sie nicht mehr. Und das ebenfalls seit dreißig Jahren.

      In Deutschland dauerte es nicht lange, bis Osama sein berufliches Glück fand. Seine speziellen IT-Kenntnisse verhalfen ihm zu einer Stelle als Datenbankspezialist bei der Deutschen Bank in Frankfurt am Main. Dort war er immer noch tätig. Das junge Paar hatte auch das Glück, ein gesundes Baby zu bekommen. Sie nannten es Anders.

      Die Liebe seiner Eltern zu ihrer Heimat Syrien mutmaßte Andy bloß anhand von Indizien. Seine Eltern gaben sich alle Mühe, diese zu verheimlichen, sie leugneten sie sogar. Sie versuchten, mit allen erdenklichen Mitteln zu verhindern, dass Andy Syrien lieben lernte. Durch sie durfte er weder Liebe noch Loyalität zum Land seiner Vorfahren entwickeln und es gewann bei ihm keinen höheren Stellenwert als Länder wie Trinidad und Tobago oder Burkina Faso. Die einzige wertvolle Verbindung zu Syrien, die Andy vom Elternhaus mit auf den Weg gegeben wurde, war die Sprache. Andy konnte fließend Arabisch sprechen.

      In der Nacht vor dem Abflug nach Aleppo dachte Andy viel über seine Eltern nach. In Wahrheit mussten sie also Syrien lieben, aber der Krieg und die Tyrannei durch Assad und das Treiben der später dazugekommenen IS-Djihadisten hatten ihre Seelen beschädigt. Die Eltern trauten dem Frieden nicht und fürchteten, dass das Leiden irgendwann wieder ausbrechen würde. Und leiden wollten sie nicht - nie mehr. Auch waren sie der Meinung, dass die Tore der Hölle nicht mit dem Ende des Krieges geschlossen worden waren. Sie hatten Angst vor der kriegsgeschädigten Generation, die aus seiner Sicht unberechenbar war.

      In jener Nacht erinnerte sich Andy an eine Begebenheit aus seiner eigenen Kindheit. Er hatte damals vom Bürgerkrieg einiges mitbekommen: wie seine Mutter heimlich vor dem Fernseher saß und beim Anblick der Bilder des Mordens und Zerstörens heulte. Assad legte die Stadt Aleppo damals in Schutt und Asche – eine Stadt, die an historischem Reichtum kaum zu überbieten war. Eine Stadt, die über zwei Jahrtausende älter war als das Christentum. „Eine Fabrik der Geschichte“, hörte Andy seine Mutter einmal über Aleppo sagen.

      In dieser Aussage erkannte er Munas Hochschätzung für Aleppo. Ein derartiges Lob vernahm Andy jedoch kein zweites Mal.

      Der Heimatlose

      Andy besaß viele gute Eigenschaften. Geduld war allerdings keine von seinen Stärken. Er drängte

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