Der Golan-Marathon. Yassin Nasri

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Der Golan-Marathon - Yassin Nasri

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wie möglich zurückzugeben. Die Europäer verloren sich in Bürokratie und in dem Aufstellen von Regeln für die Verteilung der Ressourcen. Die europäische Vision blieb größtenteils auf der Strecke.“

      „Und was haben die Syrer anders gemacht?“

      „Die Syrer und ihre Nachbarn setzten die Kernidee der europäischen Einigung um: das vollständige Ersetzen der nationalen Identität durch eine rein kulturelle Identität.“

      Der Heimatlose drückte auf einen Knopf an seiner Armlehne und fuhr fort: „Und das in einer Ecke der Welt, in der die Loyalität zur Nation, die Religion und die ethnische Zugehörigkeit zum Volks- und Familienstamm mehr wiegen als Kultur, Demokratie und übergeordnete gesellschaftliche Interessen.“

      Die hübsche Flugbegleiterin erschien erneut. Der Heimatlose bestellte bei ihr ein Mineralwasser, wahrscheinlich um den scharfen Geschmack seines Tomatensaftes hinunterzuspülen.

      Andy verfolgte sie mit seinem Blick. Innerlich zog er die Behauptung zurück, gegenüber dem Heimatlosen gepunktet zu haben. Anscheinend steckte dieser sehr tief in der Materie drin. Im Grunde genommen hatte er recht. Die Syrer baten die Europäische Union und die UNO um Hilfe beim Aufbau demokratischer Strukturen. Carla, die sich mit Syrien viel besser auskannte als er, erzählte von vielen Diskussionen, die damals stattfanden. Sie führten zu der Entstehung einer neuen Vision von Heimat, bei der die kulturellen Werte im Mittelpunkt standen. Territoriale nationale oder religiöse Aspekte und Ansprüche spielten dabei nur noch eine geringfügige Rolle. Das Erzielen eines Friedensabkommens mit Israel wurde dadurch enorm vereinfacht. Nach einigen Jahren des beiderseitigen Vertrauensaufbaus entstand zwischen den Ländern eine Union. Sie wurde nach der Stadt Ugarit benannt, die etwa zweitausend Jahre vor Christus als das Kulturzentrum der Region des östlichen Mittelmeers galt – längst bevor die drei großen Religionen entstanden. In Ugarit kam es damals zur Verschmelzung mehrerer regionaler Schriftarten, die zu einer revolutionären Entwicklung führte: das ugaritische Keilschriftalphabet.

      Zur Ugarit Union gehörten nach wenigen Jahren neben Syrien und Israel auch die Länder Libanon, Jordanien und Palästina dazu. Potential für eine weitere geografische Ausdehnung bestand bei dieser Union nicht. Andy wusste nicht viel mehr über den Zusammenschluss, aber irgendwo hatte er einmal gelesen, dass die Mitgliedsstaaten seit 2032 eine Währungsunion unterhielten und darüber hinaus beschlossen hatten, die nationale Souveränität der einzelnen Länder ab 2035 vollständig an die Ugarit Union abzutreten. Hauptstadt der Union sollte dann Amman werden.

      „Wissen Sie eigentlich, warum gerade Amman die Hauptstadt der Ugarit Union sein soll und nicht zum Beispiel Aleppo, Damaskus oder Jerusalem?“ Mit dieser Frage musste Andy den Wissensvorsprung des Heimatlosen anerkennen.

      „Aleppo und Damaskus sind geschichtlich und kulturell einfach zu dominant. Jerusalem verfügt über einen zu großen religiösen Hintergrund. Um das Gleichgewicht zwischen Syrien und Israel zu wahren, einigten sich die Ratsmitglieder der Union auf die bescheidenste Metropole der Region – Amman.“

      Die Antwort des Heimatlosen kam so emotionslos herüber, als ob es bei der Unterhaltung um etwas vollkommen Belangloses ginge.

      „Das ist ähnlich wie bei der EU und Brüssel“, erwiderte Andy lächelnd.

      Der Heimatlose verzog keine Miene. Er war zu sehr mit der Entsorgung der Tomatensaft-Utensilien beschäftigt. Mit Mühe schaffte er es, den leeren Becher zu zerdrücken und in die Tasche des Vordersitzes zu quetschen.

      Andy warf einen Blick auf ihn. Er musste um die Mitte Sechzig sein, war schlank, elegant gekleidet und hatte einen kahlen Kopf. Er sprach Deutsch mit einem leicht arabischen Akzent. Gelegentlich machte er einen grammatischen Fehler. Andy dachte, dass der Mann eine ähnliche Geschichte wie sein Vater haben und er auch ein syrischer Auswanderer der ersten Generation sein müsse.

      „Wissen Sie, welcher Spitzname unter den Menschen meiner Generation für die Ugarit Union verwendet wird?“, fragte der Heimatlose plötzlich.

      „Nein?“

      „U2.“ Der Heimatlose schmunzelte.

      „Sie meinen nach der irischen Rockband?“

      „Ja.“

      „Mein Vater mochte sie. Ich weiß nur wenig über diese Gruppe. Und was mögen Sie für Musik?“, fragte Andy.

      Die hübsche Flugbegleiterin brachte in diesem Moment das Essen. Sie lächelte Andy an. Er hätte gerne gewusst, ob sie ihn wegen der Service- und Kundenorientierung anlächelte oder weil sie ihn persönlich mochte. Als Andy mit dem Essen fertig war, hatte der Heimatlose schon die Kopfhörer auf. Auf dem Bildschirm, der am Vordersitz angebracht war, konnte Andy erkennen, dass er Johann Sebastian Bach hörte. Damit war seine Frage beantwortet.

      Andy schaute sich noch einen Film aus dem Jahre 2032 an, in dem Ethan Hawke einen älteren Ingenieur und Aussteiger spielte, der beschlossen hatte, der Zivilisation den Rücken zuzukehren. Mit einem selbstgebauten, autarken Hightech-Schiff segelte er auf „Nimmerwiederanlegen“ los. Enttäuscht musste er am Ende des Films feststellen, dass die Ozeane der Welt voll waren mit Menschen wie ihm. Die Maschine setzte zur Landung an. Der Heimatlose war immer noch mit dem Lesen eines Buches beschäftigt. Das kam Andy richtig antiquiert vor. Das letzte Mal, dass Andy jemanden ein Buch aus richtigem Papier lesen sah, musste vor zwei oder drei Jahren gewesen sein. Sein Buch klappte der Heimatlose erst zu, als die Maschine stoppte und alle Passagiere aufstanden. Andy war gerade dabei, seine Tasche aus dem Gepäckfach zu holen, als er ein leises „Tschüß!“ hörte. Andy nahm die Tasche herunter und wollte gerade antworten, da war sein Sitznachbar schon zwischen den vielen Passagieren verschwunden. „Verzeihung! Könnten Sie mir zumindest Ihren Namen verraten?!“, rief Andy laut. Einige Menschen drehten sich zu Andy um. Der Heimatlose war jedoch nicht darunter.

      Das Himmelsfenster von Aleppo

      Auf der Suche nach dem Heimatlosen verrenkte sich Andy beim Verlassen der Maschine und auch am Flughafen von Aleppo fast den Hals. Zugegebenermaßen lagen die Chancen, diesen merkwürdigen älteren Herrn zu finden, nicht sonderlich hoch, denn der moderne Flughafen der florierenden Metropole war riesengroß.

      Mithilfe seines elektronischen Reisepasses, der in seiner Armbanduhr gespeichert war, konnte er innerhalb von wenigen Minuten den Sicherheitsbereich des Flughafens von Aleppo verlassen. Zeitsparend wirkte auch die Tatsache, dass er seinen Koffer schon am Dresdner Bahnhof aufgegeben und den Auftrag erteilt hatte, ihn direkt ins Hotel nach Aleppo zu liefern. Das Hotel lag auf der anderen Seite des Flughafengeländes und war durch einen Tunnel mit dem Flughafengebäude verbunden. Innerhalb von acht Minuten erreichte er das Hotel. Nach dem Einchecken nahm er eine heiße Dusche, zog sich frische Kleidung an und ging hinunter in die Hotellobby. Dort war er mit seinen Arbeitskollegen aus der Vertriebsabteilung, Hannah, Finn und Eric, verabredet.

      „Wann seid ihr eingetroffen?“, fragte Andy nach der Begrüßung.

      „Hannah und ich erst gestern. Finn ist aber schon seit vorgestern vor Ort“, antwortete Eric.

      „Und ist der Stand schon fertig?“

      „Ja, alles ist perfekt eingerichtet. Die Messebaufirma hat eine tolle Arbeit geleistet“, sagte Finn zufrieden.

      „Du wirst überrascht sein, ja, vielleicht sogar verblüfft“, bemerkte Hannah lächelnd.

      Andy ging auf Hannahs Kommentar nicht ein. Bald vertieften sich die Vier in ein langes, geschäftliches Gespräch. Es erstreckte sich noch weit in den Abend hinein und endete mit einem Essen im

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