Der Golan-Marathon. Yassin Nasri

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Der Golan-Marathon - Yassin Nasri

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in die Maschine einsteigen, denn er hasste Warteschlangen.

      Von da aus konnte Andy die meisten der wartenden Passagiere beobachten. Die Halle war überfüllt. Daraus schloss er, dass die Maschine ebenfalls voll belegt sein müsse. Die meisten Passagiere sahen europäisch aus – ein gemischtes Publikum aus Jung und Alt, wobei die Älteren überwiegten. Andy war froh, dass so viele ältere Leute dabei waren. Diese brauchten länger, um sich mit einem Reiseziel vertraut zu machen, und wenn sie es taten, dann sprach das für einen hohen Sicherheits- und Komfortstandard im Zielland. Er erinnerte sich an das, was sein Vater ihm mal von früher erzählt hatte. Damals, zu Zeiten Assads, beförderte eine Maschine, die nach Syrien flog, fast ausschließlich Syrer, die entweder im Ausland lebten und zu Besuch in die Heimat kamen oder die im Ausland etwas Geschäftliches oder etwas Privates zu tun hatten und wieder zurückkehrten. Ausländische Touristen sowie ausländische Geschäftsleute waren Mangelware. Wenn sich mal ein Ausländer in einer Maschine nach Syrien befand, dann handelte es sich entweder um einen lebensmüden Rucksacktouristen, dem das Besteigen des Himalajas zu langweilig geworden war, oder um einen ausländischen Agenten, der sich als Journalist oder Mitarbeiter einer Hilfsorganisation ausgab. Den heutigen Massentourismus kannte man dort noch nicht. Syrien wurde damals als Urlaubsort gemieden.

      Diese Zeiten waren nun lange vorbei. Nach einem zermürbenden Bürgerkrieg, der mehrere Jahre andauerte und bei dem Hunderttausende von Menschen ums Leben kamen, hatte es das Land innerhalb kürzester Zeit geschafft, eine stabile Demokratie aufzubauen. Auf internationaler Ebene genoss das Land nun einen hohen Stellenwert und galt als politisches, ökonomisches und soziales Musterland. Immer wieder wurde Andy von vielen Menschen gefragt, ob er und seine Familie sich überlegten, nach Syrien zurückzukehren. Als ob dieses Land für ihn eine Heimat darstellte! Auf solche Fragen reagierte Andy sehr allergisch. Schließlich war er in Deutschland geboren. Dort war er auch zu Hause. Deutschland gab ihm seine nationale und Europa seine kulturelle Identität.

      „Nationale Identität! Eine solche Bezeichnung klingt nicht mehr zeitgemäß. Die nationale Orientierung ist ein vom Aussterben bedrohtes Phänomen. Neben den religiösen Ideologien ist das nationale Denken die Ursache für die meisten Katastrophen dieser Welt gewesen. Schon vor mehr als zwanzig Jahren habe ich mich in meinen Schriften für die Abschaffung dieser Art des Denkens eingesetzt. Und ausgerechnet in Syrien wurden erstmalig Elemente meiner Vision umgesetzt!“

      Als diese Worte fielen, befand sich die Maschine bereits in der Luft und die Anschnallsymbole waren ausgeschaltet. Perplex und irritiert schaute Andy aus dem Fenster. Er fühlte sich von seinem Sitznachbarn überrumpelt. Die Unterhaltung begann ursprünglich mit der Frage, ob der arabisch aussehende Andy auch Arabisch spreche. Jetzt nahm das Gespräch eine ganz andere und sehr ernsthafte Wendung. Andy bereute, gegenüber einer fremden Person so viel von sich preisgegeben zu haben, das betraf insbesondere die Aussage über seine gefühlte Identität. Sein Sitznachbar musste etwas bemerkt haben: Andys Gesichtsausdruck und seine Körpersprache waren abweisend. Langsam wechselte der Nachbar den Schwerpunkt seines Oberkörpers von Andys zur Gangseite, strich mit der linken Hand über sein Kinn und tat so, als würde er die Bewegungen im Gangbereich beobachten. Er machte keine Anstalten, die Unterhaltung fortzusetzen und studierte schweigend die vorderen Sitzreihen. Andy war beruhigt. Sein Nachbar hatte wohl doch nicht vor, ihn den ganzen Flug über auszufragen. Mit dem Gefühl, dass er das Gespräch zu jedem beliebigen Zeitpunkt beenden oder zumindest lenken könnte, begann er:

      „Und was ist mit Ihnen? Welche Identität haben Sie?“

      Der Mann zögerte: „Geographisch gesehen bin ich ein Heimatloser – ein Mann mit verlorener Identität.“ Ein sanftmütiger Blick von Andy bewog den Mann dazu, seine Aussage zu ergänzen: „Sie irren sich, wenn Sie mit Heimatlosigkeit etwas Negatives verbinden. Heimatlosigkeit ist das schöne Gefühl, in der Welt zu Hause zu sein.“

      Andy schmunzelte innerlich. Der Name „der Heimatlose“ passte gut zu seinem Nachbarn und er entschied sich, ihn für sich fortan so zu nennen. Auch wenn das Thema Heimat Andy interessierte, wollte er auf keinen Fall den Gesprächsfaden verlieren.

      „Und was meinten Sie eigentlich mit der Aussage: ,ausgerechnet in Syrien‘?“, fragte Andy daher in einem verwunderten Ton.

      „Naja“, antwortete der Heimatlose und machte eine Atempause. Er warf noch einen kurzen Blick den Gang hinunter, rückte sich auf seinem Sitz zurecht, um sich anschließend mit seinem Oberkörper wieder Andy zuzuwenden.

      „Der syrische Bürgerkrieg war vermutlich der heftigste und schlimmste, den die Menschheit jemals erlebt hat. Aber er stellte letzten Endes eine Chance dar. Er bewog die Syrer zum Nachdenken und gab ihnen den Anstoß, die nationale Identität in die Mülltonne zu werfen.“

      Andy blickte verwundert zu seinem Nachbarn hinüber.

      „Aber der Aufstand in Syrien hatte doch einen nationalen Ursprung“, widersprach er energisch. „Die Syrer haben lediglich für die Freiheit innerhalb ihrer nationalen Grenzen gekämpft.“

      „Ja, das stimmt. Aber so war es nur anfänglich, was nicht weiter verwunderlich ist. Das entsprach dem damals herrschenden Zeitgeist, zumal der Assad-Clan die Syrer über Jahrzehnte auf eine uneingeschränkte Heimatliebe, den Nationalismus und Patriotismus eingeschworen und sie tagtäglich mit antiimperialistischen, antikapitalistischen und antizionistischen Parolen geimpft hat! Es wurden die falschen Feindbilder erzeugt. Am Ende stellte sich heraus, dass der Prediger der Feind war. Er kam von innen. Aus jener so geliebten und gefeierten Heimat.“

      „Mit dem inneren Feind meinen Sie al-Assad selbst, richtig?“

      „Ja. Damit sind wir wieder am Ausgangpunkt. Der nationale Mantel galt für Jahrhunderte als Schutz vor Feinden. Die syrische Krise hat allerdings gezeigt, dass diese Vorstellung veraltet ist.“

      Eine zarte Stimme unterbrach die Unterhaltung: „Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?“ Andy und der Heimatlose schauten auf. Eine orientalische Schönheit mit langem schwarzen Haar, großen hellbraunen Augen und hohen Wangenknochen schaute die beiden Männer an. Ihre Attraktivität brachte Andy aus der Fassung. Sie hatte bestimmt syrische oder libanesische Wurzeln.

      Der Heimatlose gab zuerst seine Bestellung auf. Andy brauchte die Zeit, um sich wieder zu sammeln.

      Die hübsche Flugbegleiterin servierte, lächelte Andy kurz an und ging weiter. Andy fiel auf, dass sie zu seinem Bier statt einer, zwei Tüten Nüsse hingelegt hatte. Er öffnete eine der Packungen, schob zwei Nüsse in den Mund und dachte über die Worte des Heimatlosen nach: „Die nationale Orientierung ist ein vom Aussterben bedrohtes Phänomen ... Elemente meiner Vision ... ich bin ein Mann mit verlorener Identität.“ Und was meinte er eigentlich mit „meinen Schriften“? War er ein Schriftsteller oder vielleicht ein Journalist?

      Sein Sitznachbar war noch damit beschäftigt, Salz, Pfeffer und Tabasco in seinen Tomatensaft zu schütten. Andy nutze die Gelegenheit, um das unterbrochene Gespräch fortzuführen:

      „Aber eine solche Erfahrung ist nicht neu. Im Nationalsozialismus kam der Feind auch von innen. Deutschland und Europa haben daraus gelernt, die Vision eines vereinigten Europas entwickelt und umgesetzt“, sagte Andy und fühlte sich dabei sehr schlau. Er hatte das Gefühl, seinem Gesprächspartner gegenüber gepunktet zu haben.

      Der Heimatlose schien erst mal mit dem Verrühren der Zutaten in seinem Tomatencocktail beschäftigt zu sein. Gelassen nahm er einen Schluck aus dem Plastikbecher. Dabei verzog er das Gesicht – die Grimasse verriet die Schärfe des Saftes.

      „In der Tat, Sie haben recht. Doch dann kamen die Schmarotzer dazu und haben sich drangehängt, ohne die wirkliche Idee der europäischen Einigung verinnerlicht oder auch nur im Ansatz verstanden zu haben. Dadurch verkümmerte die Europäische Union zu einem Pool aus Ländern

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