Sklavenschwester. Arik Steen
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Tag 1
August 2015
Zweifelsohne hat Bayern seine kleinen ruhigen Ecken. Sie sind jedoch wohl kaum vergleichbar mit der endlosen Weite und Einsamkeit mancher Gegenden in Schweden. Mit einer schier unvorstellbaren Gesamtfläche von über siebenhunderttausend Hektar verteilen sich insgesamt neunundzwanzig Nationalparks auf das ganze Land. Mit sieben Jahren hatte Elvira das schwedische Lappland zum ersten Mal kennengelernt. Mit ihren Eltern hatte sie damals eine Tour durch Nordschweden gemacht und war fasziniert von dieser Natur gewesen.
Erst mit neunzehn sah Elvira ihre Traumlandschaft wieder. Diesmal bereits als junge Frau und ohne die Obhut ihrer Eltern. Sie hatte in Schwabing, einem Münchner Stadtteil, ihr Abitur gemacht und dann entschieden über den Sommer nach Lappland zu fahren. Keiner hatte damals geahnt, dass sie dort die Liebe ihres Lebens finden würde. Der damals einundzwanzigjährige Erik war Ranger im Nationalpark Abisko, etwa zweihundert Kilometer nördlich vom Polarkreis. Der junge Schwede hatte die deutsche Reisegruppe, der Erika damals angehört hatte, durch den Park geführt. Ihm gefiel die junge Münchnerin, die ihm viele Fragen über die Tier- und Pflanzenwelt stellte. Für Elvira war es sicherlich nicht die Liebe auf den ersten Blick. Zu sehr waren ihre Gedanken überwältigt von dieser Natur. Der Ranger war für sie anfänglich lediglich Teil dieser unfassbaren Gegend. Aber umso mehr sie ihm Fragen stellte und umso mehr sie sich unterhielten, umso mehr sah sie auch den Menschen Erik.
Nach ihrer Rückkehr nach München fing sie an, ihm zu schreiben. Sie wollte unbedingt im Winter wiederkommen. Vor allem weil sie eines sehen wollte: Polarlichter. Obwohl es in der Gegend des Nationalparks Abisko die weltweit höchste Wahrscheinlichkeit gibt, dieses Naturphänomen zu sehen, war es Elvira während ihres Urlaubs nicht vergönnt gewesen. Und sie wollte natürlich auch Erik wiedersehen.
Aus einem Urlaubsflirt wurde eine Fernbeziehung. Und aus dieser wurde die große Liebe. Dass diese keine Zukunft hatte, wie so viele Verwandte und Bekannte immer wieder behaupteten, davon wollte Elvira nichts wissen. Sie war damals fest entschlossen der Beziehung eine Chance zu geben. Ihre Mutter hatte gehofft, dass mit der Zeit die Flamme der Liebe erlosch, aber das tat sie nicht. Und schließlich, nach gut einem Jahr, gab Elvira ihr Leben in der bayerischen Landeshauptstadt auf. Sie zog nach Nordschweden. Viele Freunde, Bekannte und Verwandte hatten Elviras damalige Entscheidung angezweifelt.
In Deutschland waren die meisten Verwandten der festen Überzeugung, sie würde wieder zurückkommen. Doch das war nicht der Fall. Spätestens als die erste Tochter zur Welt kam, war klar, dass aus einem Urlaubsflirt, nicht nur erst eine Fernbeziehung und dann die große Liebe, sondern schließlich eine Familie entstanden war.
Elvira hatte ihre Entscheidung nie bereut. Vor allem deshalb nicht, weil sie zwei wundervolle Töchter bekam, die ihrem Leben eine völlig neue Herausforderung brachten.
Doch so sehr Elvira, die die Einsamkeit der schwedischen Wälder und der Nationalparks liebte und schätzte, so sehr sie sich hier daheim fühlte, so groß war auch der Wunsch, ihren Töchtern ein Stück ihrer alten Heimat nahezubringen. Beide Töchter wuchsen in der behüteten Einsamkeit der Wälder auf und kannten die große weite Welt nur aus Schulbüchern. Elvira wusste, dass in ihren Töchtern eine Sehnsucht steckte, mehr zu sehen als nur endlose Wälder und Fjorde. Vor allem die ältere Tochter Lova wollte mehr als das. Durch Zufall hatte Elvira von einem Auslandsstipendium in München gehört und ihre Tochter angemeldet.
Seit mittlerweile gut einem Jahr war die nun zwanzigjährige Lova in der bayerischen Landeshauptstadt München und studierte Ökologie. Elvira wusste tief in ihrem Herzen, dass ihre ältere Tochter nicht mehr zurückkommen würde. Aber sie musste das akzeptieren. Immerhin hatte sie die Idee mit dem Stipendium gehabt und sie selbst hatte es vor über zwanzig Jahren nicht anders gemacht, wenn auch andersherum.
Als schließlich ihre jüngere Tochter Saga sich ebenfalls nach Deutschland aufmachte, war es für Elvira um einiges schwerer. Das ohnehin recht stille Haus wurde nun noch ruhiger.
«Ich bin ja nur 14 Tage in Bayern!», meinte Saga.
Elvira nickte: «Ja, ich weiß, mein Liebling. Aber trotzdem. Es ist für mich nicht einfach!»
«Ich bin nicht so wie meine Schwester!», grinste die schlanke sportliche Saga. Während ihre blonde Tochter Lova sehr viel von ihrem Vater hatte, so kam Saga doch sehr nach ihrer Münchner Mutter. Saga hatte wie ihre Mutter etwas dunkleres Haar.
Elvira lächelte ihre Tochter an und gab ihr einen Kuss auf die Stirn: «Das weiß ich auch. Ihr seid völlig verschieden. Und ich weiß auch, dass du zurückkommen wirst. Aber du musst auch mich verstehen. Die nächsten Wochen wird es ziemlich still hier!»
«Du wirst das schon aushalten!», meinte Saga: «Und Papa ist ja auch noch hier!»
«Er ist die nächste Woche unterwegs im Park!», seufzte Elvira: «Aber du hast schon recht. Sobald er zurückkommt, werde ich mir mit ihm ein paar schöne Tage machen. Ohne nervige Töchter ...»
«Ha ha ha!», sagte Saga und trug ihren Koffer dann hinaus zum Auto.
«Hast du eigentlich nun deiner Schwester Bescheid gesagt?», nachdem sie ihre Jacke genommen hatte und ihrer Tochter gefolgt war.
«Nein, es soll eine Überraschung sein!», grinste Saga.
«Na ja, ich weiß ja nicht. Wäre doch gut, wenn sie wissen würde, dass du kommst. Dann kann sie es sich einrichten ...»
«Ich warne dich! Du verrätst nichts!», erwiderte ihre Tochter klar und deutlich. Sie kannte ihre Mutter und wusste, dass sie in solchen Sachen schnell schwach wurde. Und sie wollte wirklich nicht, dass ihre Schwester sie bereits vorab erwartete.
«Ja, ich verrate schon nichts! Für mich ist das halt so eine Sache. Du allein in München ...»
«Wieso alleine? Linnea ist doch mit dabei!»
«Sie ist genauso jung wie du und unerfahren. Das beruhigt mich nicht.»
«Und wir wohnen ja bei ihrem Onkel!», versuchte Saga ihre Mutter weiter zu beruhigen.
«Nun ja!», lächelte ihre Mutter gequält: «Ich mach mir halt Sorgen und ich denke, das ist mein gutes Recht!»
Saga stieg in den Jeep und schnallte sich an: «Können wir fahren?»
Elvira nickte und setzte sich auf den Fahrersitz: «Ja, Liebes. Wir können!»
«Linnea wartet sicherlich schon. Wir sind zehn Minuten zu spät!»
«Ich kann mir denken, dass du aufgeregt bist. Aber wir sind gut in der Zeit. Keine Angst, mein Liebes, wir bekommen euren Flieger noch rechtzeitig nach Stockholm.»
Linnea wohnte keine zwanzig Minuten von der Siedlung, in der Saga aufgewachsen war. Sie kannten sich beide von der Schule und waren seit ihrem siebten Lebensjahr befreundet.
Die Idee in den Sommerferien nach München zu fliegen hatte Linnea gehabt. Sie hatte einen Onkel, der in Bad Tölz, rund 50 Kilometer südlich von München, wohnte.
Da Saga schon immer mal die Heimat ihrer Mutter kennenlernen wollte, fehlte nicht allzu viel bis zur Entscheidung ihre Freundin zu begleiten. Als sie gehört hatte, dass Bad Tölz nur 50 Minuten mit der Bahn von München weg war, hatte sie schnell zugesagt.
«Da steht sie schon!», sagte Saga aufgeregt und zeigte auf