Vom Hohen und Tiefen und dem Taumel dazwischen. E. K. Busch
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Vom Hohen und Tiefen und dem Taumel dazwischen - E. K. Busch страница 3
Die heiße Tasse in den Händen blickte Toni in den grauen Himmel hinauf. Der Graupel fiel wie winzige Styroporkügelchen, die sich in ihren wirren Haaren und ihrem Wollpullover verfingen.
Es schneite selten in Heidelberg, seltener jedenfalls als im Alpenvorland, wo Toni aufgewachsen war. Sie vermisste den Schnee manchmal ein wenig, der sie an heitere Kindertage erinnerte. An ihren Bruder Robert und ihren gemeinsamen Schlitten, seine ungestüme Begeisterung für das Skifahren, wenn sie beide schweigend nebeneinander im Bügellift gehangen hatten und er unüblich brüderlich den Arm um sie gelegt hatte. Als könne ihr nichts zustoßen, solange er nur bei ihr wäre.
Der spärliche Schneefall jedenfalls hatte sie hier hinaus in die Kälte gelockt. Wer konnte schon sagen, ob es noch einmal schneien würde diesen Winter?
Hier draußen fühlte sie sich gut. Hier gab es nur sie und die Dinge. Und die Dinge waren einfach nur, verlangten keine Worte. Das Paradies.
Vom Balkon aus hatte man eine unspektakuläre Sicht in den verbauten Hinterhof des Häuserblocks. Einen Moment lang galt Tonis Interesse einem Papageienschwarm, der sich laut und zänkisch auf dem einzigen Baum im Hof niederließ.
Es waren giftgrüne Halsbandsittiche, wie sie zu Hunderten in der Stadt lebten. Das erste Mal hatte Toni ihre Präsenz bemerkt, als sie mit Benjamin einen besonders stumpfsinnigen physikalischen Versuch hatte durchführen müssen und die meiste Zeit gelangweilt aus dem Fenster gestarrt hatte. Direkt vor ihrer Nase hatte sich eines der Tiere mit einer großen, silbernen Distel angelegt. Für Tonis besorgten Blick und ihre Aufregung hatte Benjamin lediglich ein Achselzucken übrig gehabt. Nein, man müsse sich nicht sorgen um diese Tiere, hatte er erklärt und seine Arme gelangweilt hinter seinem Kopf verschränkt. Die Vögel wären zwar tatsächlich einmal aus einem Käfig entflohen, mittlerweile aber zu einer waren Plage geworden. Er hatte vielsagend die buschigen Augenbrauen gehoben und sich dann wieder gelangweilt dem einzigen Spiel zugewandt, das auf dem PC im Versuchsraum installiert war.
Trotzdem hatte Toni seit diesem Nachmittag etwas übrig für die aufsässigen Tiere. Mit ihren gekrümmten Schnäbeln schienen sie stets zu einem Lächeln aufgelegt und selbst in der Kälte dieses grauen Februartages vermochten sie es, ein wenig tropische Stimmung zu verbreiten.
Als sich die Vögel einige Minuten später kreischend davon machten, schien es ihr, als fände sich auch ein großer schwarzer darunter. Eine Krähe?
Sie starrte dem Schwarm einen Moment ungläubig hinterher, da waren die Vögel jedoch schon zu klein geworden, als dass man ihre Farbe noch eindeutig hätte bestimmen können. In weiter Ferne ließen sie sich auf einigen drahtigen Antennen nieder.
Hin und wieder kam es vor, dass Toni seltsame Dinge sah. Dinge, die gar nicht existierten. Dinge, die eine falsche Gestalt besaßen. Dinge, die sich bewegten, obwohl sie es doch nicht taten. Es waren Kleinigkeiten nur. Lächerliche Kleinigkeiten. Vermutlich hätte sie sich mittlerweile daran gewöhnen müssen. Tatsächlich jedoch beunruhigte es sie immer wieder aufs Neue, wenn sich eine ihrer Beobachtungen bei einem zweiten Blick als Täuschung entpuppte. Und noch beunruhigender war es, wenn ihr die Chance auf Wahrheit völlig entglitt und sie keine Trennung mehr vornehmen konnte zwischen Einbildung und Realität. So wie die Vögel nun zu weit entfernt waren, um ihr Rätsel zu lösen, und Toni daher bis in alle Ewigkeit im Ungewissen bliebe.
Sie sagte sich, dass sie sich von ihrer Einbildungskraft nicht dürfte zum Narren halten lassen. Sie hatte eine allzu lebhafte Fantasie. Es gab keine schwarzen Halsbandsittiche.
Nachdem Toni nun wieder allein im Hof war, blickte sie sich ein wenig gelangweilt auf dem Balkon um. Abgesehen von einigen leeren Bierkästen und einem zusammengeklappten Wäscheständer gab es jedoch nicht viel zu entdecken. Dabei war der Balkon recht geräumig und hätte sicherlich auch Platz geboten für einen kleinen Tisch und zwei Stühle im französischen Bistro-Stil.
Toni schlang ihre Arme um ihren Oberkörper. Jetzt wurde es ihr doch etwas kalt hier draußen in ihrem roten Pullover und der Jeans, ohne Mantel und Schal. Vor allem drang die Kälte nun durch ihre dicken Socken. Ärgerlich bewegte sie ihre Zehen. Da sie trotzdem wenig Lust verspürte, wieder hineinzugehen, tapste sie frierend von einem Fuß auf den anderen und verzog sich dann in ein Eck auf der anderen Seite des Balkons. Dort bot ein Mauervorsprung ein wenig Deckung vor dem Wind. Sie rieb ihre kalten Fußsohlen abwechselnd mit ihren Händen. Sie musste an Scott und seine Polarexpedition denken. Wie man die Männer Jahre später erfroren in ihren Zelten vorgefunden hatte, in den Logbüchern den dramatischen Bericht ihrer letzten Tage. Wenn sie nun hier draußen auf dem Balkon erfroren wäre, man hätte nie erfahren, was sie hier eigentlich gesucht hatte. Hier gab es keinen Südpol. Hier gab es überhaupt gar nichts. Im Grunde war das ja gerade das Schöne daran.
Toni ließ von ihren schmerzenden Fußsohlen ab. Sie würde wieder hineingehen müssen. Es war zu kalt hier draußen. Was sollte das denn überhaupt? Suchte sie das Nichts? Das war ein Widerspruch in sich.
Sie lächelte verächtlich in sich hinein, als ihr Blick durch ein Fenster in das Innere des Hauses fiel. Sie sah in Fridas Zimmer, auch wenn sie aufgrund der ungewohnten Perspektive einen Moment brauchte, das zu erkennen. Doch da hing das große Poster von James Dean an der Wand und dort stand Fridas pompöser Schminktisch mit der Lichterkette, die um den Spiegel gewickelt war wie ein Blumenkranz.
Die Kette verströmte ein warmes Licht in dem ansonsten dämmrigen Zimmer und warf chaotische Schatten an die Wände. Als befände man sich in einem Kaleidoskop. Der ungewohnte Blickwinkel und das wirre Schattenspiel ließen den Raum sonderbar schief und verzerrt erscheinen. Toni blickte sich kritisch um. Sie mochte es nicht, wenn sie sich von derlei Dingen verunsichern ließ. Wenn sie ein mulmiges Gefühl befiel nur einer diffusen Ahnung wegen, dass etwas nicht stimmte. Sie war kein kleines Kind mehr.
Vielleicht war Frida doch zuhause, oder aber sie hatte vergessen, das Licht zu löschen. Die dunklen Vorhänge waren halbherzig zugezogen, so dass Toni kaum einen Schritt zur Seite machen musste, um vollen Einblick in den kleinen Raum zu erhalten. Sie erschrak, als sie in ein bleiches Gesicht blickte, kaum eine Armlänge von sich. Es musste zuvor hinter dem Vorhang verborgen gewesen sein. Die Züge schienen ihr seltsam starr und einen ganzen Moment war ihr, als handele es sich um eine Plastik aus Stein oder Gips. Dann jedoch bemerkte sie das Zwinkern der Augenlider und den feuchten Glanz der Augäpfel in ihren Höhlen.
Es war das Gesicht einen Mannes. Alterslos und ohne Farbe, das mit den Schatten zu verschmelzen schien. Hohe Wangen, eine kräftige, gerade Nase. Die Gesichtszüge kalt und unnachgiebig. Tonis Blick glitt die eckigen Schultern hinab und fiel auf einen nackten Brustkorb, der sich mit jedem Atemzug hob und senkte. Es war nichts Verletzliches an dieser Nacktheit. Sie schien ihr roh und brutal. Die Muskeln warfen harte Schatten.
Ihr Blick folgte nun den sehnigen Armen. Bleiche Hände, welche die Taille eines Mädchens fest umschlossen hielten. Das musste Frida sein. Ihr hübsches Gesicht der Wand zugewandt. Doch Toni erkannte das strohblonde Haar, das fein und hell glänzte im Licht. Ein magerer, nackter Körper mit schmaler Hüfte und knochigen Schulterblättern. Mit den eckigen Wirbeln wie der Panzer eines Sauriers. Dennoch wehrlos an die Wand gestellt.
Einen ganzen Moment starrte Toni unverwandt auf diese beiden nackten Körper im Schatten. Es war eine unwirkliche Szene. Tonlos. Sie erschauerte. Da war eine dumpfe Gewalt in diesem Bild, die ihr unerträglich war. Dennoch vermochte sie es nicht, sich abzuwenden. Sie sah stumm, wie er das Mädchen packte und es auf dem Schreibtisch niederdrückte. Ein wehrloser bleicher Körper. Sie sah, wie er sich ihrer dumpf bediente. Wie