Carli macht Karriere. Cristina Zehrfeld
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Warum Carli die Republik verlassen hat
Fehlstart
Die Karriere von Herrn Carl hat mit einem unglaublichen Patzer begonnen. Ich würde diese beispiellose Peinlichkeit gern unter den Tisch fallen lassen, aber das geht natürlich nicht. Wenn ich alles Peinliche, alles Unerhörte, alles Unsägliche und alles Ärgerliche aus dem Leben des Maestro Carl unter den Tisch fallen ließe, dann würde seine Biografie auf die Länge einer halben DIN-A4-Seite schrumpfen. Deshalb sage ich es gleich hier und jetzt: Wer mit unangenehmen Wahrheiten nicht leben kann, der sollte dieses Buch sofort weglegen. SOFORT! Maestro Carl hat nämlich von Anfang an zu mir gesagt: „Frau Kritzelt, wenn Sie schon unbedingt über mich schreiben wollen, dann müssen Sie gnadenlos sein. Sie müssen alle Wahrheiten ungeschönt auf den Tisch legen. Alle! Auch die Unangenehmsten. Sie müssen Ross und Reiter benennen.“ Das hat Maestro Carl gesagt, und zwar wortwörtlich, und deshalb lasse ich den Fehlstart ebenso wenig weg wie alle anderen unangenehmen Details. Liebe, hochverehrte Leser, wenn Sie jetzt immer noch weiterlesen, sollten Sie sich hinterher nicht beschweren. Ich habe Sie gewarnt. Bei Herrn Carl war mit einem Fehlstart mitnichten zu rechnen gewesen, denn alles hätte ja bis zu diesem Zeitpunkt kaum besser laufen können. Herr Carl war in eine exorbitant musikalische Familie hineingeboren worden. Er war bei seiner Ausbildung von einer musikalischen Koryphäe zur nächsten gereicht worden. Er hatte sich bei Wettbewerben wacker geschlagen und sich dank zahlloser Konzerte schon während des Studiums eine treue Fangemeinde aufgebaut. Sein Genius hatte die einflussreichsten Persönlichkeiten der Republik so tief beeindruckt, dass man schon während seiner Studienzeit damit begonnen hatte, ein Konzerthaus eigens für Herrn Carl zu bauen. Inzwischen hatte man ihn sogar mit großer Geste zum ersten Konzerthausorganisten ernannt. Nun allerdings, als Herr Carl das Diplom in der Tasche und große Ziele vor Augen hatte, jetzt, da er den Elan zu einem großartigen Karrierestart in sich trug, war seine Glückssträhne vorbei. An seinem ersten Arbeitstag eilte Herr Carl zu seinem Konzerthaus, um sich in die Arbeit zu stürzen. Doch was musste er feststellen: Seine Orgel war noch nicht spielbereit. Die Orgel war nicht nur nicht spielbereit, sie war noch gar nicht eingebaut. Herr Carl war fassungslos. Das Konzerthaus, dessen erster Konzerthausorganist Herr Carl auf dem Papier bereits war, dieses Konzerthaus befand sich noch mitten im Rohbau. Natürlich hatte Herr Carl die zögerlichen Baufortschritte bereits seit mehreren Wochen mit wachsender Unruhe verfolgt. Doch er ist immer ein Optimist gewesen. Bis zuletzt war er sicher gewesen, dass ein Wunder geschieht. Oft genug hatte Herr Carl davon gehört, dass über Nacht nicht nur Konzerthäuser, sondern ganze Schlösser erbaut wurden, wenn man nur einen guten Namen hatte. Wenn man zum Beispiel Aladin hieß und eine magische Öllampe besaß. Die Republik hatte einen ganz wunderbaren Namen, und den Besitz einer Öllampe hatte sie auch längst unter Beweis gestellt. Damals beispielsweise, als die Republik einfach so über Nacht jene Autobahn von Berlin nach Dresden hatte bauen lassen. Fast zwanzig Jahre war es inzwischen her, dass man eben diese Autobahn zum Trocknen in Berlin aufgehängt hatte. Allerhöchste Zeit also für ein neues Wunder. Doch dieses Wunder blieb aus, und Herr Carl musste sich mit dem Unfassbaren abfinden: Er war der erste Konzerthausorganist ohne Konzerthaus.
Unabkömmlich
Schuldzuweisungen nützen keinem. Deshalb ist es müßig, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, ob der unfertige Konzerthausbau der Bummelei der Bauarbeiter geschuldet war, oder ob nicht vielleicht Herr Carl seine Studien zu flink abgeschlossen hatte, ob er also, wie so oft, seiner Zeit weit voraus war. Vielleicht hatte auch nur irgendwer die Öllampe verbummelt. Die Verzögerung des regulären Berufsstarts von Herrn Carl wäre im Grunde völlig gleichgültig gewesen. Sein Terminkalender war voll. Nur mit Mühe gelang es ihm überhaupt, alle Konzertanfragen zu berücksichtigen. Doch es ging in diesem Fall nicht um Herrn Carls Arbeitspensum. Es ging um die Sicherheit des Staates! Herr Carl war jung, dynamisch und zu jedem Opfer bereit. Insbesondere war er bereit, sein kleines, unbedeutendes Leben ohne zu zögern für sein großes, bedeutendes Vaterland hinzugeben. Das war keine Aufopferung, sondern die reine Selbstverständlichkeit. Alle jungen Männer hatten in der Republik mit Vollendung des achtzehnten Lebensjahres die ehrenvolle nationale Pflicht, als Wehrdienstleistende das Vaterland und die Errungenschaften der Werktätigen zu schützen. Auch Herr Carl hatte diese Pflicht. Allerdings hatte er ihr zu seinem unendlichen Bedauern noch nicht nachkommen können, weil ihn dringende schulische Obliegenheiten abgehalten hatten. Er war, wie es so schön hieß, für die Dauer des Studiums vom Grundwehrdienst bei der Nationalen Volksarmee, kurz NVA, zurückgestellt. Dieser Grund war nun definitiv entfallen. Herr Carl war folglich ganz und gar erfüllt von dem Wunsch, sich in das geordnete Leben einer Kaserne einzufügen und sein Vaterland mit der Waffe in der Hand zu verteidigen. Mit Freuden wäre Herr Carl für sein Vaterland durch den Schlamm gerobbt und über Eskaladierwände geklettert. Da das Konzerthaus nun ohnehin noch nicht fertig war, wollte er am liebsten unverzüglich seinen Wehrdienst antreten. In froher Erwartung der Einberufung hatte er seinen Wehrdienstausweis stets griffbereit. Doch es hat nicht sollen sein. Obwohl sein Arbeitsplatz noch von Baulärm erfüllt war, wurde Herr Carl wegen fachlicher und sonstiger Qualifikation als unabkömmlich vom Wehrdienst freigestellt. Er bedauerte es zutiefst. Doch Herrn Carls Unglück war ein großes Glück für die Bevölkerung. Im Ernstfall wäre Herr Carl mit seiner grenzenlosen Friedfertigkeit ein unkalkulierbares Sicherheitsrisiko gewesen.
Fehlbesetzung
Auch ohne festen Arbeitsplatz war Herr Carl tatsächlich ganz unabkömmlich. Kaum hatte er sein Studium beendet, schon wurde er zum Jurysekretär des Johann-Sebastian-Bach-Wettbewerbes in Leipzig berufen. Außerdem fand er wegen seiner vielen Auftritte kaum Zeit, wenn sein künftiger Chef, der überaus berühmte Kapellmeister Professor Kurth, seine Dienste in Anspruch nehmen wollte. Diese Inanspruchnahme war freilich auch manchmal eine große Dreistigkeit. In aller Regel spielte das Orchester des Herrn Kapellmeisters nämlich in einem Provisorium, welches man bestenfalls als Mehrzweckhalle bezeichnen konnte. Die Bezeichnung “Mehrzweck” führte dieses Haus ganz zu recht. Nicht nur Konzerte des durchaus renommierten Orchesters fanden hier statt, sondern auch Tanzabende, Jugendweihefeiern, Gewerkschaftskongresse, Kindertheateraufführungen und Boxwettkämpfe. Da alle diese Dinge viel Staub aufwirbelten, war die Orgel im großen Saal nicht eben im besten Zustand. Manchmal verpflichtete Professor Kurth Herrn Carl aber auch für angemessene Aufgaben. So sollte Herr Carl ein halbes Jahr nach Beendigung seines Studiums mit Professor Kurth und seinem Orchester nach Turin in Italien fahren, um zum fünfzigjährigen Bestehen des dortigen Rundfunkorchesters mit vielen wichtigen Musikern die Matthäus-Passion einzustudieren. Herr Carl übernahm diese Aufgabe mit Freuden. Nun zählte allerdings das schöne Italien, wie so viele andere schöne Länder auch, zum nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet. Und wie immer bei Reisen in dieses unheimliche, nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet mussten zuverlässige Berichterstatter die Reisetauglichkeit aller Teilnehmer bestätigen. Professor Kurth und sein Orchester waren in Sachen Reisetauglichkeit unbedenklich. Über Herrn Carl allerdings gab es noch jene Berichte, die der gute alte Alfred geschrieben hatte, als Herr Carl noch der kleine Herr Carl war. Selbstverständlich konnten diese alten Berichte nicht für die aktuelle Beurteilung herangezogen werden. Es mussten neue Berichte geschrieben werden. Allerdings ist das Schreiben von guten Berichten eine aufwändige und kräftezehrende Angelegenheit, und es wäre ja auch reine Verschwendung von Ressourcen gewesen, die literarischen Perlen des guten alten Alfreds ungenutzt in der Schublade liegen zu lassen. Ressourcen allerdings wurden in der Republik niemals verschwendet!!! Deshalb