Carli macht Karriere. Cristina Zehrfeld
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Edith und der Lehrausbilder
Das legendäre Punkthochhaus „PH16“ war einst ein Eldorado für gesellige Menschen, denn es war der höchste in Serie gebaute Plattenbautyp der ganzen Republik. Es hatte sechzehn Etagen, und pro Etage hatte es neun Wohnungen, in denen je zwei bis drei Personen lebten. Carli wohnte nun also zusammen mit rund vierhundert Bewohnern in einem Haus. Alle wollten liebend gern Carlis Freunde werden. Das ist leider nicht allen gleichermaßen gut gelungen. Manche haben es aber doch geschafft. Die Edith aus der dritten Etage zum Beispiel. Die Edith hatte einerseits Glück, denn als sie wieder einmal zum Sonnenbaden aufs Dach des Hochhauses fuhr, traf sie Carli im Fahrstuhl. Andererseits war es nicht nur Glück. Edith war prädestiniert, eine Freundin von Carli zu werden, denn sie war Zahnarztgattin und Stomaschwester, und Carli liebte seit jeher alles, was mit Medizin zusammenhängt. Außerdem war Edith eine begeisterte Konzertgängerin. Trotz größter Bemühungen hatte sie jedoch noch keine Karten für Carlis Konzerthaus ergattern können. Deshalb fragte sie ihn im Fahrstuhl stehenden Fußes, ob er ihr nicht Konzertkarten besorgen könne. Für seine Fans tut Carli nun seit jeher fast alles. Er versprach also, sich um Karten zu kümmern, und tatsächlich fand Edith ihre ersten Konzerthauskarten wenige Tage später in ihrem Briefkasten. Das war der Beginn einer langen und tiefen Freundschaft. Die innigen Bande gingen so weit, dass Edith schon bald die große Ehre hatte, mit Carli nächtelang in seiner Wohnung Noten zu kleben. Sie konnte ihr Glück kaum fassen. So geschickt wie Edith waren allerdings nicht alle Hochhausbewohner. Herr Georgi zum Beispiel, ein Lehrausbilder mit über dreißig Jahren Berufserfahrung, hatte die besten Voraussetzungen, ein enger Vertrauter Carlis zu werden, denn er wohnte nicht fernab in der dritten, sondern in der vierzehnten Etage. Herr Georgi hatte die Wohnung direkt unter Carli, ein Glück, von dem andere Menschen nur träumen konnten. Doch Herr Georgi wusste dieses Glück nicht zu schätzen. Niemand kann sagen, wie es zugegangen ist. Möglicherweise hat Carli daheim hin und wieder eine nächtliche Soiree veranstaltet. Denkbar auch, dass Carli ab und zu seine unnachahmliche Mitternachtspolka getanzt hat. Herr Georgi hatte dafür aber weder Auge noch Ohr. Er war eben kein Kunstkenner. Trotzdem ist er in dem mit dem Münchhäusner Hebbenich-Oscar ausgezeichneten Film „Die Kunst nach Fug und Recht“ zu einiger Berühmtheit gekommen. Die mit dem nötigen zeitlichen Abstand gedrehte Dokumentation feiert Carli als Popstar, Revoluzzer und größten Interpreten aller Zeiten neben Glenn Gould. Doch der siebzigminütige Streifen leistet noch mehr. Der Filmemacher hat sein Möglichstes getan, sich auch in die Rolle des Carli-Untermieters im „PH 16“ hineinzudenken. Sehr wahrscheinlich hat sich der Filmemacher sogar heimlich irgendwo als Untermieter von Carli eingenistet. Anders ist kaum erklärbar, dass er die Leistung Georgis so einfühlsam schildert, ihn gar lobpreist als Herrscher der Bockwürste, der ein Blockwart- und Zwergengetöse veranstaltet.
Carli gibt den Fischer-Dieskau
Oftmals beklagte sich Carli, dass seine Leistungen nicht anerkannt würden. Die Bezahlung im Konzerthaus war günstigstenfalls mittelmäßig, und die Ehrungen haben ohnehin stets die anderen bekommen. Doch zwei Jahre nach Eröffnung des Konzerthauses war endlich auch Carli mit einer Auszeichnung dran. In einer wortreichen Huldigung bestätigte Professor Kurth dem lieben Kollegen Carli, dass er schon vor der Eröffnung des Hauses dazu beigetragen hat, den Neubau der Orgel in bester Qualität durch seine Beratung zu fördern. Nicht jedes Detail wurde freilich gewürdigt. Kurth ließ in seinen Lobesworten den rostroten Fleck auf Carlis fliederfarbenem Anzug ebenso unangesprochen wie den Polier Heinzelmann, der eine Erwähnung als grobschlächtiger Kunstbanause durchaus verdient gehabt hätte. Professor Kurth attestierte Carli stattdessen, dass er sich durch beispielhaften Einsatz hohe Verdienste erworben und weit mehr Stunden der Orgelmusik übernommen hatte, als vertraglich vereinbart. Professor Kurth lobte, dass Carli Kollegen und Publikum durch seine hohen künstlerischen Leistungen bei Konzerten und bei Fernsehübertragungen überzeugt hatte, und er vergaß auch nicht anzumerken, dass Carli einmal kurzfristig für den erkrankten Bariton Dietrich Fischer-Dieskau eingesprungen ist. Entgegen anderslautenden Gerüchten kann ich aber mit Gewissheit sagen, dass Carli bei diesem Einsprung durchaus nicht die ursprünglich geplante Winterreise von Franz Schubert gesungen hat. Dennoch hatte Carli natürlich Unglaubliches geleistet. Für seinen unermüdlichen Einsatz hat er deshalb den in Gold-Rot glänzenden Orden „Aktivist der sozialistischen Arbeit“ bekommen. Carli war gerührt. Besonders, nachdem er die extra für ihn auf der Rückseite des Ordens eingravierte Maxime gelesen hatte, die da lautete: „Auf sozialistische Art zu leben, erfordert auf sozialistische Art zu arbeiten.“
Reden ist Silber
Das Konzerthaus war so gewaltig und so außerordentlich schön, dass Musikliebhaber aus aller Welt anreisten, um es zu bestaunen. Natürlich wäre es jedem davon das Liebste gewesen, sich stundenlang in den ganz und gar herrlichen Konzerten den Rücken krumm zu sitzen und atemlos Carlis Kunst zu lauschen, aber für alle Besucher reichten leider die Konzertkarten nicht aus. Außerdem gab es neben den auditiven Menschen, denen der schöne Klang das Wichtigste war, schon immer auch viele visuell veranlagte Menschen. Denen war es ziemlich egal, ob im Konzerthaus gerade die Musik spielte. Sie wollten das schöne Haus sehen, einen Blick ins Innere der Orgel werfen und all diese Herrlichkeiten erklärt bekommen. Für diese Menschen hat sich die Konzerthausleitung etwas