Killertime. Charlie Meyer
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Sie hatte wie hypnotisiert zugesehen, wie der Mörder wartete, bis Buran wieder zu sich kam, um sich dann erst zwischen seine gespreizten Beine zu stellen, das Skalpell in der Hand.
In diesem Moment hatte sie ihn rufen hören. Halblaut und lockend, und sie hatte vor Furcht zu keuchen begonnen.
»Komm putt, putt, putt, putt. Komm Rosielein, komm zu mir Rosemarie, mein Täubchen, Rosalinde Schätzchen, komm mein Mädchen, komm zu Papa.«
Und das war schlimmer auszuhalten gewesen als alles andere.
Während er sie lockte, hatte er sich langsam gedreht, und mit seinen Blicken den Waldrand abgesucht. Er wusste, sie war da, aber offenbar nicht genau, wo. In diesem Moment war Buran aus der Bewusstlosigkeit nach den Faustschlägen wieder aufgewacht. Sie hatte gesehen, wie er an seinen Fesseln riss, wie er den Kopf hob, und dann, als sich der Mörder mit dem blitzenden Messer in der Hand über ihn beugte, wie er sich so furchtbar und stumm in seinen Fesseln aufgebäumt, als jage ein Defibrillator Stromstöße durch seine Brust.
Und sie war so dankbar gewesen, dass der Killer nicht mehr nach ihr rief, dass er den Blick abwandte und mit dem, was er tat, von ihr abgelenkt war. Buran wehtun und nicht ihr. Sie glaubte vor Scham sterben zu müssen, aber sie war so ihm so schrecklich dankbar, dass ihr schwindelig wurde.
Sie sah zu, wie der Mann, der ihr in dieser Nacht die Sterne vom Himmel geholt hatte, verstümmelt wurde. Sie sah zu, wie ihm der Mörder schließlich die Kehle durchschnitt, von einem Ohr zum anderen, und hätte jauchzen mögen vor Erleichterung, dass dieser Wahnsinnige nicht sie, sondern ihn quälte und umbrachte.
Sie wollte leben, hundert Jahre alt werden, und den Enkeln ihrer Enkel Gutenachtgeschichten erzählen. Nette Geschichten mit Zwergen und Elfen und Kobolden, die allerlei Schabernack trieben, aber niemandem etwas Böses antaten. Keine Albtraumgeschichten.
Nachdem all diese Gräuel vorbei waren, hatte sie die Stirn gegen die Knie gepresst, die sie noch immer mit beiden Armen umklammerte. Und während sie verzweifelt versuchte, sich eine nette, harmlose Geschichte mit Zwergen, Elfen und Kobolden auszudenken, hatte sie begonnen, sich hektisch vor und zurückzuwiegen.
Als sie sich getraut hatte wieder hinzusehen, war er verschwunden gewesen. Er. Der Mörder. Der Wahnsinnige, und nur Buran war noch dort in der Mitte der Lichtung. Nackt und blutig und gekreuzigt. Den blutüberströmten Hals mit der klaffenden Wunde überstreckt, der weit aufgerissene Mund eine einzige Anklage gegen sie.
Auf ihrer Internetseite kämpfte sie gegen das Abschlachten von Robben und Walen, prangerte den Völkermord in Ruanda an und forderte drakonische Strafen gegen die, die bei all dem wegsahen.
In der Realität kämpfte sie nicht einmal für den Menschen, den sie liebte. Schlimmer noch, nicht einmal für sich selbst.
Ein leises Wimmern entrang sich ihrer schmerzenden Kehle. Er war weg. Während sie unachtsam gewesen war, geträumt hatte, war der Verrückte irgendwo im Wald abgetaucht, sie zu suchen. Sie umzubringen. Warum war sie nicht weggelaufen, als er sich mit Buran beschäftigte? Warum versuchte sie es nicht jetzt?
Stattdessen blieb sie sitzen, wo sie war, nackt und zitternd, und als sie in ihrem Rücken das Knacken von Zweigen hörte, umklammerte sie ihre angewinkelten Beine nur noch fester und presste erneut die Stirn gegen die Knie.
»Hallo, mein süßes kleines Rosenblatt, Papa ist wieder da.«
2
»Niemals, und das ist mein letztes Wort«, entgegnete ich kategorisch und registrierte im Spiegel den Schatten und die dunklen Bartstoppeln auf meinem Kinn.
Es gibt Typen, die sich nur alle drei Tage rasieren mussten, es gibt Typen, die zu täglicher Rasur gezwungen waren, und es gibt mich. Wir alle stammen vom Affen ab, doch Lucy beharrt darauf, dass meine Evolutionsstufe haartechnisch noch immer nicht so ausgereift ist, um als Mensch durchzugehen.
Die Zeiten änderten sich eben. In der guten alten Zeit galt Brustbehaarung als Zeichen von Männlichkeit, heutzutage fordert die Fernsehwerbung wachsenthaarte Machobrüste mit babypopoweicher Haut. Haare sind nur noch oberhalb des Adamsapfels erlaubt.
Aus dem Smartphone tönte unablässig Lucys Geschnatter an mein Trommelfell, und ich mühte mich redlich, nicht den Anschluss zu verpassen.
»Du kommst doch mit«, bettelte sie schließlich und schnurrte wie ein Kätzchen. »Ach bitte. Das Musical soll ganz allerliebst sein.«
Allerliebst?
»Nein!«
Ich fuhr mir mit dem Kamm durch die braunen Locken, die mal wieder dringend einer Schere bedurften. Kam es mir nur so vor, oder schimmerte es ab und an schon silbrig durch die Fülle? Mit sechsunddreißig? Konnte das sein?
»Ach bitte.«
»Warum nimmst du nicht deinen Neuen mit? Diesen Rupert oder wie er heißt?«
Ich schnitt meinem Spiegelbild eine Grimasse.
»Ruprecht.«
»Na dann eben Knecht Ruprecht. Das Outfit fürs Theater hat er dann ja schon. Rote Stiefel, roter Mantel, passend zu den Bühnenvorhängen.«
Zufrieden betrachtete ich im Spiegel meine Freizeitkluft. Bermudas, ein grünes Hemd ohne Ärmel und Sandalen an den Füßen. Es war Freitag, ich hatte bis zur Charterfahrt am Abend frei, und würde das tun, was ich immer an meinen freien Tagen tue. Zumindest im Sommer: Mit dem Mountainbike an meinen Waldsee fahren, den außer mir nur eine Handvoll Leute kennt. Meine Haut atmen lassen. Nichts tun, außer möglicherweise die Enten in die Flucht zu schnarchen.
Vor einer Woche war ich das letzte Mal dort gewesen.
»Knecht Ruprecht und ich passen nicht wirklich zusammen«, maulte Lucy aus dem Smartphone. »Nicht mal unwirklich. Seine Libido verträgt sich nicht mit meiner …«
»Stopp! So genau will ich das nun wirklich nicht wissen. Wenn du mitkommen willst zum Schwimmen, sag ja und pack dein Handtuch ein, ansonsten bis demnächst.«
Sie ging zu einem wortlosen Schmollen über, das mit einem gelegentlichen theatralischen Schniefen gespickt war, geradeso, als hätte ich und nicht Ruprecht die nicht kompatible Libido. Nach einem halbherzigen Hallo? drückte ich das Gespräch schließlich weg.
Schmollende Frauen sind mir ein Gräuel, selbst, wenn wir beste Freunde sind und sie so umwerfend aussehen wie Lucy. Groß, blond, langbeinig und mit funkelnd grünen Augen. Den überwiegenden Teil des Jahres düst sie in der Welt herum, um aus einer Jurte, einem Iglu oder Tipi die nächste Miss World herauszuzerren und den weltbesten Agenturen für eine dicke Provision anzubieten. Sie gilt als eine der Erfolgreichsten der Branche.
Die übrigen Tage und Wochen treibt sie mich mit ihren Beziehungskisten zur Verzweiflung.
Bis zu ihrem Autounfall im vorletzten Jahr