Der Lauf der Zeit. Friedrich von Bonin
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Die Nissenhütte selbst lag auf einem kahlen Platz. Wenn man vom Weg her hin wollte, lag links vom Platz die Hütte selbst, rechts daneben hatte der Vater für sein Gemüse die Gewächshäuser aus Glas errichtet. Es gab ein Bild, auf dem seine Eltern mit ihm, seiner Schwester Hanna, und seinem Bruder Malte zu sehen sind. Seine Mutter saß, eine schlanke, schwarzhaarige Frau, mit gerader Nase und einem geschwungenen Mund, eine schöne Frau, sein Vater stand daneben, hochgewachsen, ebenfalls schlank, mit Hut, der Offizier war vor allem aus seinem strengen Mund zu erkennen, beide mit ernsten aristokratischen Gesichtern vor der ärmlichen Nissenhütte, in die ein grausames Schicksal sie verbannt hatte.
4.
Als Bruno fünf Jahre war, zogen seine Eltern mit der ganzen Familie um. Mittlerweile war ein weiterer Bruder, Hendrik, dazugekommen, Die Eltern wohnten nun mit vier Kindern in dem Dorf, in einem Haus, das der Vater selbst hatte bauen lassen. Dieses Haus lag nicht mitten im Dorf, sondern am Rande, immerhin waren es nur noch fünf Minuten zu Fuß zum Kaufmann, ebenso viel zur Kirche.
Zu dem Haus gehörte ein großes Grundstück. Der Vater hatte um dieses Grundstück im Abstand von zwei Metern Pappeln gepflanzt, um seinen Besitz zu begrenzen. Mit Zäunen grenzten nur Kleinbürger ihren Besitz ein, pflegte er zu sagen, Pappeln wüchsen schnell, dann hätten sie ein kleines Anwesen und nicht nur ein großes Grundstück. Bruno erinnerte sich, dass seine Schwester, kurz nachdem sie umgezogen waren, in die Schule kam, Bruno selbst war zu dieser Zeit damit beschäftigt, Fahrrad fahren zu lernen. Die Familie war zu arm, um den Kindern Räder kaufen zu können, so lernte Bruno auf dem Herrenrad des Vaters. Oberhalb der Stange auf dem Sattel sitzend, konnte Bruno nicht treten, die Beine waren zu kurz, und so hielt er das Fahrrad sehr schräg und lernte fahren, indem er unterhalb der Stange die Pedale trat. Das erleichterte das Lernen nicht eben, auch nicht, dass zu dem Haus ein Schlackenweg führte, immer wieder fiel Bruno hin und schlug sich die Knie auf.
Das Haus selbst war klein, ein Siedlungshaus; es hatte unten ein Wohnzimmer, durch eine Schiebetür teilbar, ein kleines Badezimmer und eine Küche. Oben waren zwei Zimmer, eines teilten sich anfangs die Eltern, in dem anderen schliefen die vier Kinder. Dies wurde nach und nach schwierig, die Eigenheiten der Kinder fingen an, sich herauszubilden. Malte „rollte“. Nachts konnte er nicht ruhig liegen, sondern rollte stets von der rechten zur linken Seite und zurück. Dies hinderte die anderen Geschwister am Schlafen. Mutter nahm Malte mit ins elterliche Schlafzimmer, wo das Rollen aufhörte. Allerdings zog die Mutter kurz danach in den unteren hinteren Teil des Wohnzimmers. Sie konnte nicht mehr beim Vater schlafen, wie sie sagte, da er schnarche. Das klang für Bruno damals plausibel.
In diesem Haus spielte sich jetzt Brunos Leben ab. Es war klein, der Garten riesig, die Pappeln, von Vater gepflanzt, regten zum Klettern an, aber wehe, man ließ sich dabei erwischen: Dann legte sein Vater ihn übers Knie und dann gab es „das Jack voll“, wie er das nannte, der alte Halcan konnte fürchterlich hauen, das tat weh, aber noch mehr schmerzte die Missbilligung, die in der Prügel zum Ausdruck kam. Hinter dem Garten war zwar das heimische Grundstück zu Ende, nicht aber die Welt: Von der Grundstücksgrenze gelangte man nach hinten auf eine Weide von riesigen Ausmaßen, auf denen die Pferde eines Bauern standen. Sie war auf allen Seiten von hohen Hecken umstanden, die immer ein bisschen im Wind rauschten. Rechts daneben, hinter dichtem Gebüsch, lag ein Kolk, ein kleiner See, in dem Fische und Frösche lebten. Die Eltern hatten die Kinder in ernstem Ton vor dem Wasser gewarnt: er ist sehr tief, hatten sie gesagt, unten in der Tiefe auch geheimnisvoll, Kinder ertrinken darin, wenn sie zu nah heran gehen.
Hinter der Wiese mit den Tieren der Fluss, damals klein und schnell fließend, mit Weiden und Pappeln an seinem Ufer, auf der anderen Seite wieder Weiden und Felder.
Das war aber nur der Garten nach hinten. Links vom Haus war ein Feld, das alle paar Jahre mit Roggen bestellt war. Im Spätsommer kamen die Bauern mit Sensen und schnitten das reife Getreide, bündelten es und stellten es zu kleinen Hütten auf. Während der Ernte durften sich Bruno und die Geschwister besser nicht am Feld sehen lassen. Es gab nämlich Spuren, flach getrampelte Pfade im Feld; natürlich hatten die Kinder die hochstehenden Pflanzen benutzt, um Verstecken zu spielen, was neben dem Reiz des Spieles auch den Reiz der Gefahr hatte: Wurde man vom Bauern erwischt, gab es eine kräftige Tracht Prügel. Natürlich war das Verhältnis zu dem Bauern zur Linken nicht sehr freundschaftlich, dafür ging Bruno häufig auf den Hof, zu dem die Koppel nach hinten gehörte. Der Hof selbst lag im Dorf, zum Ackern benutzten die Bauern drei Pferde, die zu Feierabend auf die Weide getrieben und morgens geholt wurden. Der Altbauer war damals schon über 60 Jahre, er hatte zwei Söhne, mit denen er den Hof betrieb. War das eine warme Küche im Bauernhaus, in dem Frau Hinners, die Bäuerin, stand, das frisch gebackene Brot an ihren Busen presste und Scheiben abschnitt! Diese Scheiben wurden dick mit Margarine bestrichen und mit Zucker bestreut, ein Leckerbissen.
Der Alte nahm Bruno, den er besonders ins Herz geschlossen hatte, ab und zu beiseite und sang ihm, flüsternd, heimlich Lieder:
„Wir wollen unsern alten Kaiser Wilhelm wiederham“,
und, einen halben Ton höher, die gleiche Zeile nochmal:
„Wir wollen unsern alten Kaiser Wilhelm wiederham“.
Oder:
„Und unsre Fahne, die ist schwarz-weiß-rot“.
Bruno hatte keine Ahnung, was der Alte ihm da vorsang. Er wusste nichts von Kaisern, von Wilhelm oder Fahnen, aber er nahm das, was der alte Hinners ihm da vorsang und dazu erzählte, sehr ernst. Es musste ja ernst sein, sonst hätte der Alte kaum von seinem gewohnten Plattdeutsch in das ihm beschwerliche Hochdeutsch gewechselt.
Tief in seine Erinnerungen versunken, saß Bruno an seinem Fenster in Göttingen und sah mit blinden Augen hinaus. Nie mehr hatte er an den Garten seines Vaters in Neuburgheim gedacht, nie hatte er registriert, wie genau sich der Anblick der Bäume, der Blumen und der Umgebung dieses Hauses in Neuburgheim in ihm festgesetzt hatten, selbst die Gerüche hatte er heute noch in der Nase. Gerüche! Sehr genau erinnerte er sich, wie die Kinder in der ersten Klasse der Schule rochen, nach Land, nach Tieren und ein bisschen nach saurer Milch.
5.
Zuerst kam seine Schwester Hanna in die Volksschule, da war Bruno noch nicht fünf Jahre alt. Unterrichtet wurde in einem Gebäude mit zwei Zimmern für die evangelischen Kinder, die katholischen Kinder hatten ihre eigenen Lehrer.
Bruno begleitete seine Schwester jeden Morgen um kurz vor acht Uhr zur Schule und holte sie nach Ende wieder ab. Seine Eltern waren gerührt: „Seht doch, wie Bruno an seiner Schwester hängt, jedes Mal bringt er sie hin und holt sie ab.“ Aber Bruno war nicht anhänglich, nicht darum begleitete er seine Schwester. Er brachte Hanna zur Schule und holte sie ab, weil er sich alt genug fand und sobald wie möglich auch lernen wollte.
Seine Eltern hatten mit der Lehrerin gemeinsam ein Einsehen, als Bruno noch nicht 6 Jahre alt war. Zu Ostern, vor seinem sechsten Geburtstag, kam er in die Schule.
Lehrerin war Fräulein Ralle, ungefähr 60 Jahre alt. Wenn Bruno heute an sie dachte, hatte er für ihr Aussehen nur ein Wort: gemütlich. Sie hatte eine dunkle, sonore Stimme, war nicht sonderlich streng. Fräulein Ralle war zunächst die einzige Lehrerin für evangelische Kinder am Ort. Sie musste daher alle acht Klassen gemeinsam unterrichten. Von Nachteil dabei war, dass sie den Unterricht in Hochdeutsch abhalten musste, das von den ungefähr achtzig Kindern nur 10 verstanden. Sie wechselte daher häufig ins Plattdeutsch, um etwas zu erklären. Sie musste alle fünf Minuten von einem Zimmer ins andere gehen, weil sie sich ja um beide Klassen kümmern musste, was nicht zur Disziplin im anderen