Der Lauf der Zeit. Friedrich von Bonin

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Der Lauf der Zeit - Friedrich von Bonin

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von den Bauernhöfen, deren Eltern sowieso nicht recht einsahen, wieso ihre Kinder zur Schule mussten; sie brauchten sie als Arbeitskräfte auf den Höfen. Ein Junge musste rechnen können und ein Mädchen nähen und kochen, was der übrige Unsinn sollte, war unverständlich. Fräulein Ralle trug das alles mit einer unendlichen Geduld. So war ein heulender Junge der zweiten Klasse nicht zu beruhigen. Der Vater war mit Pferden und Leiterwagen in der Pause an der Schule vorbeigefahren, der Junge wollte mit. Fräulein Ralle ließ ihn und erntete Dankbarkeit bei Vater und Sohn.

      In der Kirche gab es den alten Kantor Wührmann, der nur acht Finger hatte und damit die Orgel spielte, ungefähr 70 Jahre alt. Ein Schüler der 4. Klasse hatte gerechnet: Kantor Wührmann 70 Jahre, unverheiratet und Fräulein Ralle 60 Jahre, unverheiratet. Das Ergebnis kleidete er in eine Frage, vor der Klasse gestellt: „Fräulein Ralle, warum heiratest du nicht Kantor Wührmann?“ Mit fester Stimme antwortete sie: „Jetzt nicht, Hinderk, wie viel ist 2 und 3?“ Und erreichte, dass Hinderk seine Finger nahm und rechnete.

      6.

      Jetzt zeigte sich, wie gut es war, dass die Eltern in das Dorf gezogen waren. Bruno brauchte, um in die Schule zu kommen, nur fünf Minuten zu gehen.

      Aber was gab es im Dorf nicht alles zu sehen.

      Da waren zunächst die seltenen Lastkraftwagen. Bruno war Sachverständiger für Lastkraftwagen, hatte doch sein Vater auch einen und fuhr damit in die weite Welt. Noch beim Erinnern wurde Bruno warm. Er schlief. Auf einmal, es mochte vier Uhr morgens sein, stand sein Vater, noch im Nachthemd, vor seinem Bett, flüsternd: „Bruno wach auf!“ und nach einer Weile: „Bruno, wach auf, willst du mit nach Ibbenbüren fahren?“ Und ob Bruno wollte! Er wusste, um Schule musste er sich nicht kümmern an solchen Tagen, sein Vater würde in seiner unleserlichen Handschrift eine Entschuldigung schreiben. Blitzschnell erwachte er, sprang auf, zog sich an, wusch sich, während sein Vater schon aus dem Hause ging, und folgte dem Vater. Er stieg in den Lkw, einen Mercedes mit ganz langer Schnauze, mit Anhänger und Plane, und sie fuhren los. Auf diese Weise nach Ibbenbüren, Bruno wusste nicht, was sie da holten, nach Lengerich, da holten sie Zement. Immer ging es am Rande des Teutoburger Waldes entlang und sogar hinein. Sie waren den ganzen Tag unterwegs.

      Wie sollte Bruno da nicht Sachverständiger sein. Auf dem Hof der Gaststätte Gruber machten viele Lkw-Fahrer Pause, darunter manchmal Holländer, und Bruno stellte sich zu ihnen und träumte davon, einer von ihnen zu sein oder mindestens zu werden.

      Bei Gruber war noch mehr los. Immer sonntags, um halb zehn, kamen die Kutschen angefahren, von zwei, manchmal vier Pferden gezogen, schwarze, weich gefederte, geschlossene Kutschen, innen luxuriös gepolstert, gefahren von Kutschern, die bäuerlich gekleidet waren. Die Ankunft einer Kutsche kündigte sich durch den Hufschlag der Pferde auf dem Kopfsteinpflaster und durch das Rollen der Räder an. Hielten die Kutschen, entstiegen ihnen die Großbauern aus der Umgebung, die in ihren schwarzen Anzügen zur Kirche gingen, und zwar zur reformierten. Ernst, schwer und im Bewusstsein ihrer Würde verließen sie ihre Wagen und wandelten würdig zur Kirche, und zwar Sonntag für Sonntag, indes die Kutscher die Pferde abspannten und in der Remise bei Gruber unterstellten. Je älter Bruno wurde, desto öfter folgte er ihnen in die Kirche und zum Gottesdienst. Sie fasste ungefähr 400 Menschen und war jeden Sonntag bis auf den letzten Platz gefüllt, die Männer links von der Kanzel, die Frauen rechts davon, die nicht konfirmierten Kinder bei den Frauen. Hier hielt Pastor Ammermeier jeden Sonntag seine Predigt, ein donnernder Redner, der den Zuhörern die Lehren Jeremias, Jesajas, Amos und all der anderen finsteren Propheten des Alten Testaments um die Ohren schlug, der aber weder mit Text noch mit finsteren Drohungen noch mit Lautstärke verhindern konnte, dass die Besucher, von der harten Arbeit der Woche ermüdet, im warmen, von Menschendunst erfüllten Kirchenschiff den Kampf mit dem süßen Schlaf verloren. Besonders erbittert war der Pfarrer, dass auch die Kirchenältesten, auf Ehrenplätzen für alle sichtbar, den Verlockungen des Schlafes an den meisten Sonntagen nicht widerstehen konnten.

      Nach der Kirche und dem Segen traf man sich auf dem Kirchplatz, wo wichtige Landgeschäfte mit Handschlag abgeschlossen, Schweinepreise diskutiert und gegenseitige Besuche verabredet wurden.

      Das war Brunos Welt in dieser Zeit. Immer kam er von seinen Erlebnissen nach Hause zu seinen Eltern, zu seinen Geschwistern, in eine vertraute Welt.

      7.

      Bruno stand, achtjährig, vor dem Verkaufstresen des Lebensmittelgeschäftes, hinter dem die Besitzerin, Frau Koopmann, bediente. Gleich würde er dran sein, würde Frau Koopmann ihn nach seinen Wünschen fragen. Bruno hielt in der kleinen verschwitzten Hand den Einkaufszettel, den seine Mutter ihm mit gegeben hatte. Bruno fühlte, wie der Kloß in seinem Hals immer größer wurde, und jetzt richtete sich der Blick der Besitzerin auf ihn.

      „Nun, Bruno, was solls denn heute sein, “ fragte sie nicht unfreundlich.

      „Ein Kilo Weizenmehl,“ las Bruno den ersten Posten auf der Liste vor und Frau Koopmann wendete sich zu der großen Schrankanlage hinter ihrem Rücken und füllte aus einer Schublade ein Kilo ab, stellte die Tüte auf den Tresen und fragte nach den nächsten Wünschen. Eine lange Liste hatte seine Mutter ihm mitgegeben, hinter ihm sammelten sich neu hinzugekommene Kunden, die Schlange wurde immer größer und der Kloß in Brunos Hals immer dicker.

      „Sonst noch was?“ fragte Frau Koopmann hinter den Tüten auf dem Tresen und sah Bruno an.

      „Nein danke“, presste er hervor und Frau Koopmann begann mit ihrem Bleistift auf einem Block zu rechen.

      „Dreiundzwanzig Mark sechzig“, sagte sie dann und sah ihn an.

      „Anschreiben lassen“, Bruno bemühte sich, seiner Stimme einen tiefen Klang zu geben, das gelang ihm aber nicht, stattdessen wurde sie noch piepsiger als zuvor.

      Und dann kam, was er befürchtet hatte, seit die Mutter ihn zum Einkaufen losgeschickt hatte.

      „Hör mal, Bruno, das geht aber nicht so weiter, weißt du eigentlich, wie viel ich schon angeschrieben habe?“ fragte Frau Koopmann ihn mit energischer Stimme, „hier stehen schon über hundert Mark, wann will deine Mutter das denn eigentlich alles bezahlen?“

      Am liebsten hätte Bruno sie gebeten, leiser zu sprechen, damit die wartenden Kunden nicht mitbekamen, dass er kein Geld hatte, um zu bezahlen, aber das ging wohl nicht an. Er zuckte die Schultern, den Tränen nahe.

      „Ich weiß nicht, meine Mutter hat gesagt, ich soll anschreiben lassen“, flüsterte er heiser und verstummte.

      „Na gut, diesmal noch, aber sag deiner Mutter einen schönen Gruß, das geht nicht mehr so weiter,“ und Frau Koopmann packte die Tüten in die Tasche, die er ihr zum Tresen hochreichte, und mit hochrotem Kopf ging Bruno aus dem Laden, froh, dass Frau Koopmann diesmal nur geschimpft, aber nicht die Waren wieder zurückgestellt hatte, so dass er mit leerer Tasche aus dem Laden hätte gehen müssen.

      Seit sie nicht mehr in der Nissenhütte wohnten, waren sie dem Dorf näher gerückt. In der Hütte war die Familie unter sich, Bruno kannte kein anderes Leben als das in der Familie. Erst als sie in das Dorf zogen, kam er mit den anderen Menschen in Berührung wie mit Frau Koopmann und ihren Kunden. Bruno merkte, sie waren arm, bettelarm.

      Nicht nur, dass er bei Frau Koopmann das gefürchtete „anschreiben lassen“ aussprechen musste, Bruno hatte nie neue Sachen, keine Hosen, keine Schuhe, keine Hemden. Immer musste er die Sachen von seiner Schwester Hanna auftragen, „Mädchensachen“ wie er nicht nur einmal in der Schule gehänselt wurde. Am Anfang, als es nur zwei Klassen gab, fiel das nicht so auf, die Bauernkinder waren nicht besser angezogen. Später, in der neuen Schule, gewannen allmählich die Bürgerkinder die Überzahl. Die Bauern gingen nach wie vor ärmlich gekleidet, aber zu

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