Die Banalen und die Bösen. Jannis Oberdieck
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Mit Beinen aus Pudding schiebe ich mir einen Besucherstuhl bis unmittelbar vor das Sauerstoffzelt, im Sitzen geht es einigermaßen. Aktenkoffer, Anweisungen notieren, natürlich. Ihr Gesicht hängt dabei unmittelbar vor der Plastikfolie, innerlich noch immer Achterbahn. »Zunächst einmal, das hat im Moment äußerste Priorität, müssen die Sachpläne zur Energiewende schnellstmöglich untereinander und mit den relevantesten Nutz- und Schutzinteressen koordiniert werden. Dafür brauchen wir eine Bedarfsermittlung unter Berücksichtigung eines politisch verankerten energiewirtschaftlichen Szenariorahmens, die den Ablauf des zukünftigen Netzentwicklungsprozesses in verschiedene Teilprozesse unter Einbezug aller betroffenen Akteure gliedert«, geht die Backhus mit gutem Beispiel drakonischster Selbstbeherrschung voran, Scharen und Bataillone scharf gemachter Fachbegriffe ins Feld ihres verhinderten Tatendrangs führend. Routiniert gleitet mein Stift skribierend über das Papier, dokumentiere ich das Gemetzel.
Kann jedoch nicht behaupten, wirklich bei der Sache zu sein, Bild meiner selbst auf ihrem Chefthron im geistigen Auge noch immer schwankend vor innerem Schwindel. Weiß sie eigentlich, dass ich früher selbst einer dieser von ihr so hochgeschätzten Umweltaktivisten war? Zweifellos, wird die Akten vermutlich auswendig gelernt haben. Dann 1986, nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl, Gründung des Bundesumweltministeriums, für mich das Angebot des Pressesprechers. Kurzes Zeitfenster, in dem man enge Zusammenarbeit mit NGOs suchte, oder zumindest personell beruhigende Zeichen zu setzen versuchte, gesichertes Einkommen für Frau und Kinder jedenfalls. »Unsere Hauptziele dabei sind natürlich die Schaffung klarerer Rahmenbedingungen, erhöhter Akzeptanz, steigende Investitionssicherheit, optimierte räumliche Koordination unter frühzeitigem Einbezug der Kommunen und maximierte Niederschwelligkeit der Bewilligungsverfahren.«
Ich jedoch, gebe es zu, verfolge immer noch verharrend in Unglauben meinen Karriereweg in Gesamtschau. Als Pressesprecher stets schwierig da zu negativ, sprich: ehrlich, jedoch in der Endphase jener Epoche eingestellt, in der unbefristete Arbeitsverträge noch üblich, deshalb letztlich Beförderung aufs Abstellgleis: Stellvertreter mit so unklar umrissenen Aufgaben, dass jede Ministeriumsleitung frei entscheidet, wann und ob sie mich aus dem Schrank holt, ansonsten ungeliebte Rechtssicherheit gewährleisten. Immerhin besoldet als Staatssekretär, über 10.000 Euro pro Monat. Die Backhus, inzwischen stilistisch offenbar ein wenig zur Ruhe gekommen: »Wir brauchen natürlich nicht so viele Wälder, wenn wir Strom sauberer produzieren. Diese Windkraftparks im Mittelgebirge sind daher der entscheidende Ankerpunkt bei Austarierung des Nord-Süd-Gefälles, Ostdeutschland ebenso. Flächennutzungspläne sind von den betroffenen Bundesländern binnen sechs Monaten in enger Kooperation mit dem Bundesverband Windenergie zu erstellen, paritätische Kommissionen wie üblich, Ausweichflächen für Vogelbestände müssen zeitnah ausgewiesen werden. Ach ja, für Fledermäuse auch, glaube ich. Prüfen Sie das nach.« Notiere: Fledermäuse???
Dann die letzten zwei Jahrzehnte zunehmend besser arrangiert: endlich zuverlässigere Erwartungen dank gleichbleibender politischer Linie trotz wechselnder Regierungen. Gestiegenes Vertrauen schlug sich in der Ernennung zum Leiter der Zentralabteilung nieder, nun primär Koordination der übrigen Abteilungen. Seit der Schröder-Regierung jedoch vermehrt Umstrukturierungsmaßnahmen, immer mehr Beamte durch Leiharbeiter aus „der Wirtschaft“ ersetzt, für begrenzte Zeit als Experten teuer eingekauft. Expertenwissen vor allem darin, Interessen ihres Unternehmens zu kennen, teilen sich entweder selbst Tätigkeiten zu oder sorgen über Kontakte für entsprechende Zuweisungen, inzwischen bereits jeder Dritte. Immer gruselig, wenn man sie die Geheimakten kopieren sieht. Mittlerweile kein Überblick mehr, wer an welcher Sache arbeitet und warum, also stattdessen aktives Vertrauen darauf, dass irgendetwas schon vorangeht, innerlich zunehmend distanziert, liebäugelnd mit frühzeitigem Ruhestand. Und nun? Schlagartig: eine Position, in der ich tatsächlich inhaltlich mitgestalten kann! In einer Situation, in der ich nichts mehr zu verlieren habe! Mir schwindelt.
»Und was das Freihandelsabkommen angeht, setze ich natürlich darauf, dass sie weiterhin so reibungslos und produktiv mit Doktor Böhne zusammenarbeiten, wie unser Haus es bislang unter meiner Leitung getan hat«, schließt die Ministerin soeben. Überrascht von diesem unerwarteten Ende tauche ich auf aus meiner inneren Rundschau, auf meinem Block die Zeichnung einer Fledermaus, die Blitzstrahlen auf ein Windrad verschießt. Hat da in der Stimme der Ministerin gerade echte Sorge mitgeschwungen? Wahrscheinlich sollte ich das Zutrauen in ihre personelle Neuentscheidung ein wenig stärken. Glücklicher Weise verschafft mir ein erneuter Hustenanfall ein wenig Zeit. »Seien Sie ganz unbesorgt. Wie Sie wissen, habe ich mit Ihrem Amtsvorgänger acht Jahre lang höchst produktiv zusammengearbeitet.«
Diese Form der Darstellung ist vielleicht gerade noch vertretbar. Doktor Böhne hatte sich überwiegend in einen undurchdringlichen Kokon aus endlosen Monologen gehüllt und ich vertrieb mir die Zeit damit, seinen reichhaltigen Schatz an Lateinzitaten mitzuschreiben und zu Hause nachzuschlagen, Überreste einer einst noch humanistischen Bildung halt. Das produktive Ergebnis war, dass Doktor Böhne von Latein anscheinend genauso wenig versteht wie ich. Darüber hinaus erinnere ich in erster Linie, wie wir einmal während einer vergleichbaren Hitzewelle beisammen saßen und der honorige Doktor klagte, warum die öffentliche Bepflanzung denn nicht mehr hinreichend besprengt werde. Ich bot ihm als Erklärung an, dass die jungen Leute das vielleicht nicht mehr könnten und jemanden bräuchten, der ihnen das mal zeigte. Ergriffen nickte Dr. Böhne und stimmte mir zu, dass die Welt genau diese Art stiller Helden dringend brauche. Insgesamt schien er mir gänzlich ironieresistent.
»Und ein letztes Wort möchte ich Ihnen noch auf den Weg mitgeben, Herr Müller: Passen Sie auf sich auf! Ich habe natürlich schon gewisse Erkundigungen eingezogen hinsichtlich der Ursachen meiner... Unpässlichkeit (offenbar meint sie ihren Parasitenbefall). Es gibt da ein paar überaus vertrauliche NSA-Informationen, denen zufolge Attentate mit Biowaffen auf die Führer der westlichen Welt geplant sind (wozu die Backhus sich offenbar zählt). Noch ist nicht ganz klar, wer dahintersteckt: Entweder islamistische Terroristen oder Russland. Vermutlich beide.«
Ich nicke verständnisvoll: »Vermutlich hat Russland das Know-how geliefert und die Islamisten die Drecksarbeit machen lassen. Die neue Achse des Bösen.« Regelmäßige Zeitungslektüre ist mir zunehmend unentbehrlich dafür geworden, zur rechten Zeit die richtigen Stichwörter zu liefern. Seit Russland und China sich auf eine gemeinsame Währung geeinigt haben, überschlagen sich die Zeitungen mit „Berichten“ darüber, für welche Epidemien der Welt Russland angeblich verantwortlich sei.
Die Backhus nickt ebenfalls, sehr nachdenklich und in sich gekehrt: »Sobald ich hier wieder raus bin, werde ich mich wohl für eine Verschärfung unserer Antiterrorgesetze engagieren müssen. Aber passen Sie bis dahin auf sich auf, Herr Müller. Ich möchte nicht, dass Sie jetzt zur Zielscheibe werden.« Unsere Ministerin neigt eigentlich nicht dazu, sich zu wiederholen. Dass sie es jetzt dennoch tut, hinterlässt ein ungutes Gefühl bei mir. Ist diese diffuse Bedrohung irgendwie eingrenzbar? »Hatten Sie... hatten Sie denn in letzter Zeit irgendeinen Kontakt zu ganz bestimmten Islamisten, vor denen ich mich hüten sollte?«
Pikiert zieht die Ministerin ihre Brauen zusammen und kräuselt leicht das spitze Näschen: »Natürlich nicht! Auch die Überwachung meines Hauspersonals hat ergeben, dass diese Leute über jeden Verdacht erhaben sind!« Zurückrudern also angesagt: Versichere ihr, dass ich sie selbstverständlich nicht für die Art Ministerin halte, die sich mit islamistischen Bediensteten umgibt. Leichte Beklommenheit bleibt jedoch: »Ist Ihnen ansonsten irgendetwas... Ungewöhnliches widerfahren?«
Offenbar versteht die Ministerin es diesmal nicht als Unterstellung, sie könne grundsätzlich eine Person sein, die Ungewöhnliches erlebe. Vielleicht ist sie durch meine eigene Beunruhigung nachdenklicher geworden. Zumindest grübelt sie nun und geht im Geist offenbar die letzten Wochen ihres sehr überschaubaren Lebens außerhalb des Ministeriums durch. »Jetzt, wo Sie es sagen... nun ja... Eigentlich kommt da nur das letzte Wochenende in Frage. Da war auch ein Herr Mukkhajin anwesend. Inder, glaube