Veränderungen von Verhaltensstandards im Bereich familialer Erziehung und Sozialisation seit 1945. Winfried Wolf

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Veränderungen von Verhaltensstandards im Bereich familialer Erziehung und Sozialisation seit 1945 - Winfried Wolf

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auf der Makroebene.

      Hier finden sich bei Elias Forschungsperspektiven vorgezeichnet, die erst heute in Geschichte, Soziologie und auch in der Pädagogik deutlichere Konturen gewinnen wie etwa im Versuch die Historizität des Phänomens Kindheit nachzuweisen und deren Geschichte mit der Entwicklung der Zeitmessinstrumente und den Wandlungen des Zeitbewusstseins zu verknüpfen. Mit der Hinwendung zur Sozialgeschichte ist für die historisch arbeitende Pädagogik damit auch und in erster Linie der zivilisationstheoretische Ansatz von Norbert Elias interessant geworden.

      Für uns bleibt nun allerdings die Frage, ob der von Elias beschriebene und gedeutete Zivilisationsprozess in seiner ursprünglichen Form Wandlungen von Verhaltensstandards in modernen Gegenwartsgesellschaften hinreichend erklären kann. Wir haben in Deutschland ein hohes Maß an Staatlichkeit erreicht, der Prozess der Staatenbildung kann also nicht länger als Erklärungsmuster herhalten. Die ursprüngliche Fassung der Zivilisationstheorie muss für unsere Betrachtung also modifiziert werden. Das bedingt vielleicht auch ein anderes Verständnis von „Zivilisation“. Worin zeigt sich heute Zivilisiertheit und welchen Bedeutungswandel hat der Begriff „zivilisiert“ gemacht. Darauf wird in der Interpretation der Arbeit näher einzugehen sein. An dieser Stelle sei aber schon darauf hingewiesen, dass Elias und seine Schüler, unter ihnen vor allem Cas Wouters, die Zivilisationstheorie weiterentwickelt und erweitert haben. Die ursprüngliche Fassung der Theorie wurde dabei im Wesentlichen in zwei Punkten den gesellschaftlichen Entwicklungen angepasst. Zum einen steht der Prozess der Staatenbildung nicht mehr im Zentrum der Theorie. Zum anderen wird der Begriff „Zivilisation“ nun in einem modifizierten Sinne verstanden. Konstitutiv für „Zivilisiertheit“ ist nunmehr ein friedliches und gewaltfreies Zusammenleben der Menschen und die Ausbreitung einer stabilen und verlässlichen Selbstzwangapparatur. Mit letzterem wird ein Haupttheorem der Zivilisationstheorie weiterentwickelt.

      Elias und seinen Schülern ist natürlich nicht verborgen geblieben, dass sich die Welt seit dem Absolutismus stark verändert hat. In Wellenbewegungen haben sich die Standards des Verhaltens geändert. Starre Formen haben sich gelockert, Informalisierungsprozesse wurden aber auch wieder in Prozesse der Formalisierung zurückgeführt. Für unseren Untersuchungszeitraum, die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bis zur Gegenwart, ist nicht zu übersehen, dass sich Symptome von Informalisierung häufen und innere Kontrollen scheinbar an Bedeutung verloren haben, das hat vor allem auch Norbert Elias selbst zum Thema gemacht.3 Der Prozess der Informalisierung wird beispielsweise von Cas Wouters geradezu als Indikator dafür gesehen, dass der Zivilisationsprozess weiter voranschreitet. „Im Gegensatz zum oberflächlichen Eindruck führt größere Zwanglosigkeit in der Beziehung interdependenter Personen zu tiefer verwurzelten Selbstzwängen und erfordert sie auch... .“4 Eine professionalisierte Erziehung versucht darauf zu antworten, die Beratung in und durch Zeitschriften ist ein Beleg dafür.

      Obwohl Elias die Rolle der Erziehung im Prozess der Zivilisation nicht explizit erwähnte, ist doch offensichtlich, dass er ihr in seinem dargestellten Entwicklungsprozess einen hohen Stellenwert beigemessen hat. So können denn auch die langfristigen Trends des Zivilisationsprozesses wie Funktionsteilung, Differenzierung und Affektkontrolle durch die bisherigen historischen Arbeiten zur Erziehungsgeschichte gut belegt werden.

      Elias hat seine Analysen vorwiegend mit Hilfe von Anstandsbüchern durchgeführt. Seine Bücher schrieb er Ende der dreißiger Jahre. Hier endet auch vorläufig „sein“ Zivilisationsprozess. Die Analyse der Ratgeberrubrik einer großen Familienzeitschrift5 könnte zeigen, wie sich Verhaltensstandards der Erziehung in den letzten Jahrzehnten seit dem 2. Weltkrieg verändert und angepasst haben. Es wird zu zeigen sein, ob durch dieses langfristig angelegte Fallbeispiel die Kontinuitätsannahmen von Elias bestätigt werden können. Gleichzeitig nimmt diese Untersuchung für sich in Anspruch ein Eignungstest für die weiterentwickelte Konzeption der Zivilisationstheorie zu sein.

      Stellen wir abschließend noch einmal die Vorteile einer Übernahme der Zivilisationstheorie von Elias für eine historisch arbeitende Erziehungswissenschaft heraus: Zunächst wäre mit einem zivilisationstheoretischen Ansatz, so wie ihn Elias darstellt, das Dilemma geisteswissenschaftlicher Idealisierung und Individualisierung überwunden. Ebenso eine materialistische Funktionalisierung der Erziehung aber auch eine mit Universalien arbeitende soziologische Entwicklungstheorie. Ein weiterer Vorteil ist die empirische Überprüfbarkeit der Theorie von Elias.

      Beispielgebend und gerade für eine Geschichte der Erziehung fruchtbar erscheint die Verbindung von Soziogenese und Psychogenese. Eine parallele Entwicklung von Soziogenese und Psychogenese wird auch durch neuere Entwicklungen nicht in Frage gestellt. Fortschreitende Individualisierung und wirtschaftlicher Strukturwandel haben allerdings einen gesellschaftlichen Wandel herbeigeführt, der nicht zwangsläufig zur Ausbildung von Mustern verinnerlichter Selbstzwänge geführt hat, wie sie Norbert Elias beschrieben hat. Tendenzen zur Informalisierung und die Ausbildung von ego-zentrierten Kontrollsystemen müssen in ihrer Gewichtung analysiert werden. Weitere Forschungsarbeit wird zeigen, wie sich der weitere Wandel der Gesellschaft auf die Herausbildung von inneren Kontrollstrukturen auswirkt und welche Bedeutung dabei der Erziehung zukommen kann.

      Besondere Problembereiche für Anwendung und Interpretation werden sein: die Reichweite der Theorie (Kontinuitätsannahme), die Gegentendenzen im Prozess der Zivilisation, der postulierte Trend zum Selbstzwang, der blind verlaufende Prozess, der Verzicht auf den Fortschrittsgedanken, das psychogenetische Entwicklungsmodell der Verinnerlichung von Normen, die Sicht von Sozialisation und Erziehung als ungeplanter, automatisch und reflexartig erfolgende Konditionierung, die Lockerung von Verhaltensstandards in der heutigen Gesellschaft, die postulierten langwierigen Verinnerlichungsprozesse, die weitgehende Ausblendung ökonomischer Bedingungsfaktoren.

      

       Allgemeines zu Theorien:

      „In einem strengen erfahrungswissenschaftlichen Verständnis sind Theorien deduktive Aussagensysteme, in denen aus (a) generellen Behauptungen (Propositionen, Gesetze) über die Beschaffenheit eines Realitätsausschnittes, sowie aus (b) auf sie bezogenen Anfangs- oder Randbedingungen (c) Ereignisvoraussagen (Hypothesen) abgeleitet werden, die falsch sein können. Diese Deduktion wird Erklärung bzw. Prognose genannt.“6

      Sind demnach die Theorien sozialen Wandels wirklich Theorien? Die meisten Theorien sozialen Wandels sind nicht Theorien in diesem deduktiven Sinn. „zumeist sind es viel komplexere Aussagen und Interpretationen der Ursachen, Abläufe und Wirkungen gesellschaftlicher Veränderungen: Kombinationen von Theorien, Modellen, Metatheorien und komparativen Analysen.“7 „Unter Modellen kann man stilisierende Rekonstruktionen von Realitätsausschnitten verstehen, die den Zusammenhang oder Ablauf beobachtbarer Phänomene stark vereinfacht wiedergeben.“8

      „Rigorose Methodologen würden die Mehrzahl der Beiträge zum Problem des sozialen Wandels als generelle Orientierungen, begriffliche Schemata, oder Metatheorien bezeichnen: als analytisch mehr oder weniger explizierte Vorstellungen über die ‚Natur’ gesellschaftlicher Realität, als ‚Sprachen’, mit denen Erfahrungen geordnet werden.“9

      Neben dem Interesse an Generalisierungen besteht aber immer auch das Interesse, spezifische historische Wandlungsprozesse zu verstehen und zu bewerten. Die an der Tradition der historischen Soziologie anknüpfende Methode der komparativen Analyse liegt sozusagen zwischen Theorie- und Modellbildung einerseits und Metatheorie und sozialphilosophischer Phraseologie andererseits. Durch den Vergleich zweier Gesellschaften, denen das Vorverständnis bestimmte Entwicklungsbedingungen zuschreibt, kann man Übereinstimmungen und Unterschiede in historischen Begriffen herausarbeiten, „die nur auf einige – anstatt auf alle – Gesellschaften anwendbar sind“.10

      Was

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