Eine Geschichte über rein gar nichts. Thomas Arndt
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Als Tania nach sechs endlosen Stunden von ihrer Mutter abgeholt wurde, lobte die dicke Erzieherin das brave Mädchen in den höchsten Tönen. Ganz artig habe sie getan, was von ihr verlangt wurde. Sie habe ordentlich ihren Kartoffelbrei mit Sauerkraut und einer Scheibe Jägerschnitzel gegessen und auch von der Schale Rote Beete sei nichts übrig geblieben. Außerdem habe sie schön gespielt, sei lieb, ruhig und unauffällig gewesen. Sie musste sich sogar einige Male vergewissern, ob Tania überhaupt noch da war, und geschlafen habe sie nach dem Mittagessen wie ein kleines Engelchen. Ja!, von solchen Kindern wünsche sie sich mehr, versicherte sie der stolzen Mutter, und fügte an Tania gewandt hinzu, sich zu freuen, sie am kommenden Tag wiederzusehen.
Tania hörte der dicken Frau zu, ohne sie auch nur eines einzigen Blickes zu würdigen. Sie wusste es besser und wollte sich nicht verraten: kaum hatte ihre Mutter den Kindergarten verlassen, dachte sie bereits daran, Jacke und Schuhe anzuziehen – denn sie konnte sich bereits ohne fremde Hilfe die Schnürsenkel binden –, ihre kleine Brottasche zu nehmen und nach Hause zu laufen. Als die Erzieherin sich um das Essen kümmern musste und eine Zeitlang abgelenkt war, wollte sie ihr Vorhaben in die Tat umsetzen. Leise schlich sie in den Flur, in dem sich die Garderobe befand, suchte nach Jacke und Schuhen, fand beides und musste zu ihrem Unglück feststellen, dass sie ihre Jacke nicht erreichen konnte, da sie viel zu hoch an einem Haken hing. So suchte sie nach einem Stuhl, einem Hocker oder nach etwas Vergleichbarem, mit dessen Hilfe sie ihre Jacke ergattern könnte, doch außer einer schweren Bank, die sich an der gegenüberliegenden Wand befand und die sie unmöglich alleine bewegen konnte, fand sich kein geeigneter Gegenstand. Still ihre Jacke anblickend überlegte sie kurz, was sie tun sollte und fasste den Entschluss, sie einfach zurückzulassen, für den Nachhauseweg brauchte sie nur ihre Schuhe; auch die Brottasche, die sie – wie ihr dämmerte – einzig und allein für den Kindergarten bekommen hatte, konnte sie entbehren, denn sie hoffte, keinen weiteren Tag hier verbringen zu müssen.
Daraufhin setzte sie sich auf die Bank und zog sich ihre Schuhe an. Sie ließ sich ausnehmend viel Zeit dafür, denn sie legte großen Wert darauf, dass die Schleifen eine regelmäßige Form aufwiesen. Dennoch musste sie die Schleife ihres linken Schuhs noch einmal lösen, weil der Knoten darunter für ihren Geschmack viel zu locker saß. Den rechten Schuh musste sie gar noch einmal ausziehen, da die Strumpfhose darin eine Falte geworfen hatte und sie wusste, wie sehr sie das stören würde.
Sich schließlich über die tadellose Symmetrie der Schleifen freuend ging sie zur Tür, öffnete sie (sie war tatsächlich nicht verschlossen!) und blickte hinaus. Da stand sie nun auf der Schwelle, bereit, den Heimweg anzutreten und wusste nicht, wo sie war. Sie versuchte ein bekanntes Haus zu entdecken, sei es ein Geschäft, in dem sie mit der Mutter schon einmal gewesen war, sei es ein Wohnhaus, in dem die Verwandtschaft lebte. Doch nach wenigen Sekunden wurde ihr klar, dass sie niemals zuvor in dieser Straße gewesen war und nicht allein nach Hause zurück finden würde.
Erstaunlicherweise behielt Tania in dieser unangenehmen Situation einen klaren Kopf. Weder verließ sie den Kindergarten ohne zu wissen, in welche Richtung sie gehen sollte, noch brach sie in Tränen aus, wie es wohl vielen anderen Kindern ergangen wäre. Mit aller Kraft ihres dreijährigen Verstandes beschloss sie angesichts ihrer verzwickten Lage, dass es besser wäre, auf die Mutter zu warten. Erneut setzte sie sich auf die Bank, betrachtete bedauernd einige Sekunden die wunderschönen Schleifen ihrer Schnürsenkel, zog dann die Schuhe aus, stellte sie exakt an die Stelle zurück, an der sie zuvor gestanden hatten, schlich sich anschließend in den Raum, in dem die Mutter sie zurückgelassen hatte und setzte sich auf den Stuhl, der ihr von der Erzieherin zugewiesen worden war, sodass ihr gescheiterter Fluchtversuch unbemerkt blieb. Dort blickte sie abwechselnd auf die Tapete der gegenüberliegenden Wand, auf den Boden, zur Decke und auf vorbeirennende Kinder, bis sie von einer anderen Erzieherin, die sie noch nicht kannte, nach ihrem Namen gefragt wurde.
Der erste Tag im Kindergarten endete zu ihrer Überraschung mit einer kleinen Feier im Haus der Eltern. Als Tania und ihre Mutter daheim ankamen, wartete beinahe die gesamte Verwandtschaft und stellte viele Fragen, um in Erfahrung zu bringen, wie es ihr gefallen habe. Mama hat mich allein gelassen!, dachte sie trotzig, brachte jedoch keine Silbe über die Lippen, da sie an den erfreuten Gesichtern ablesen konnte, dass eine positive Antwort erwartet wurde, die sie aber nicht geben konnte. Eine Weile blickte sie ratlos drein und da sie nichts erwiderte, löste die Großmutter die Verlegenheit. Erste Tage seien immer komisch, sagte sie, weil einem so viel Neues begegne und man sich zuerst daran gewöhnen müsse, bevor man urteile. Sie sei ein kluges Mädchen, ergänzte sie, da sie zuerst nachdenke, bevor sie spreche. Kurzum, die Erwachsenen waren stolz und sprachen ihr gut zu. Im Handumdrehen werde sie sich an den Kindergarten gewöhnt haben und viele neue Spielkameraden finden, und nach drei Jahren warte bereits die Schule auf sie – das werde erst ein Spaß werden, versicherten sie einhellig; Tania fühlte sich immer hilfloser.
An diesem Nachmittag hörte sie den Erwachsenen aufmerksamer zu, als sie es je zuvor getan hatte und kam zu folgenden Erkenntnissen: 1) drei Jahre alt musste sie werden, um in den Kindergarten gesteckt zu werden; 2) drei Jahre müsse sie dort bleiben, um dann 3) in die Schule zu gehen, die ihrer Meinung nach so etwas wie ein anderer Kindergarten war; 4) dort würde sie wahrscheinlich weitere drei Jahre verbringen und 5) ihre Verwandten freuten sich, weil sie von ihrer Mutter einen ganzen Tag lang einfach so weggegeben worden war.
Was sie von alldem halten, wie sie damit umgehen sollte, wusste sie nicht. Bisher war ihre Mama das Zentralgestirn ihres Universums gewesen. Auch wenn sie nicht zu sehen war, konnte Tania sicher sein, dass sie sich ganz in ihrer Nähe befand und wenigstens ihre Stimme hören würde, wenn sie nach ihr riefe. Diese Mutter, die sich immer so liebevoll, geduldig und aufopfernd um ihre Tochter gekümmert hatte, übergab diese dem Kindergarten und freute sich mit den anderen darüber. Tania verstand das nicht. Dachten sie denn wirklich, dass es ihr bei den tobenden, schreienden und kleckernden Kindern gefalle? Ach!, wie wenig sie doch wussten! Nichts wussten sie! Gar nichts! Sie überließen sie der Obhut völlig fremder Menschen und veranstalteten deswegen ein Fest. Was für ein merkwürdiger Anlass!
Als die Erwachsenen Kaffee trinkend und Kuchen essend am Tisch saßen und sich unterhielten, fiel es ihr wie Schuppen von den Augen: ihr Leben, so wie es bisher gewesen war, hatte sich an diesem Tag grundlegend verändert. Niemals mehr würde es so sein wie bisher. Die kommenden drei Jahre müsse sie im Kindergarten verbringen, weil die Mutter sie nun einmal dorthin gebracht hatte und, wie sie vermutete, darauf bestand, dass sich daran nichts mehr änderte.
Tania kletterte auf den Schoß ihres Vaters und betrachtete aufmerksam ihre Mutter; in diesem Augenblick wurde ihr bewusst, dass sie diese Frau, von der sie gestern Abend zu Bett gebracht wurde, nur um sie heute wegzugeben, niemals zuvor so gesehen hatte.
Tania versuchte zu beschreiben, worin der Unterschied bestand, den sie zu erkennen glaubte und ebenso fragte sie sich, ob ihre Augen schlechter geworden wären, da sie viel zu selten ihre Brille aufsetzte und sie vielleicht deshalb ihre Mutter nicht mehr richtig erkennen konnte. Sie wollte verstehen und ausdrücken, was anders war, doch fehlten ihr angesichts ihres Alters die rechten Worte und der dazu nötige Überblick, von Erfahrung ganz zu schweigen. Als sie einsah, dass sie keine Erklärung finden würde, kam sie zu dem Entschluss, dass die Mama ein Gesicht hatte, dass sie kannte und liebte und eins, dass sie nicht kannte und nicht verstand.
Kurzzeitig stolz machte Tania an