Eine Geschichte über rein gar nichts. Thomas Arndt

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Eine Geschichte über rein gar nichts - Thomas Arndt

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hilflos mit den Schultern, sah die Mutter erstaunt an und erwiderte, dass sie oft und gerne mit anderen Kindern spiele.

      Eine schönere Antwort hätte Tania nicht geben können! Eine Welle der Erleichterung ergoss ihre Flut über alle Bedenken und spülte die mütterlichen Sorgen fort. Schon war sie zufrieden und erklärte Tania, von der sie noch immer verwundert angesehen wurde, dass sie sie ein wenig beobachtet habe, wie Mütter das eben tun, und ihr aufgefallen sei, sie spiele und verhalte sich ein wenig anders im Vergleich zu ihren Spielkameraden. Tania schaute ihre Mutter verständnislos an, wiederholte, dass sie gerne spiele und wusste nichts hinzuzufügen. Die Mutter aber war beruhigt, da sie sicher zu wissen glaubte, ihre Tochter habe schlicht ihre eigene Art und ihr eigenes Wesen, wodurch ihr Verhalten hinreichend begründet wurde. Sie strahlte Tania an, strich ihr zärtlich übers Haar und sagte: »Keine Sorge, mein Schatz. Es ist ja nichts. Ich hab mich nur ein bisschen gewundert, dass du nicht so wild herumtobst wie die anderen Mädchen und Jungen. Aber das macht nichts, das macht gar nichts. So ist es auch gut, vielleicht sogar noch besser.« Diese Erklärung aber weckte Tanias Misstrauen und sie fragte: »Mama? . . . Hast du dich schon lange gewundert?«

      »Aber nein! Es ist mir nur so aufgefallen.«

      »Warum ist es dir aufgefallen?«, fragte Tania weiter.

      »Ich weiß nicht.«, antwortete die Mutter. »Man beobachtet dies und das und macht sich seine Gedanken.«

      »Und ist Papa das auch aufgefallen?«

      »Papa? Ich weiß nicht. Ich habe noch nicht mit ihm darüber gesprochen.«

      »Und Oma und Opa?«, bohrte Tania weiter.

      »Ich glaube nicht.«, beruhigte sie die Mutter.

      Unter dem Vorwand, etwas erledigen zu müssen, beendete sie das Gespräch und ließ Tania in ihrem Zimmer zurück. Während für sie die Angelegenheit geklärt war, dachte Tania noch lange darüber nach. Die Mutter wunderte sich also, dass sie nicht so herumtobte wie andere Kinder? Sie fand das aber gut, wie sie sagte, und für Tania gab es keinen Grund, daran zu zweifeln. Aber warum hatte sie sie dann überhaupt darauf angesprochen, fragte sie sich und fand keine einleuchtende Antwort. Da müsse noch etwas sein, meinte sie, ein anderer Grund, den sie nicht erraten konnte. Also machte sie es sich zur Aufgabe, genau zu beobachten, ob sie sich wirklich anders verhielt als andere Kinder.

      Gemessen an ihrem Alter hatte Tania eine außerordentliche Beobachtungsgabe entwickelt. Einige Situationen genügten ihr, um innerhalb der Grenzen ihres Verstandes zu sehen und zu begreifen was ihre Mutter meinte. Sie verstand, dass man von ihr erwartete, sich nicht allzu sehr von anderen Kindern zu unterscheiden, ohne dass sie begreifen konnte, warum das so sein sollte.

      Tania gelang es hier und da, das eigene Verhalten dem anderen Kinder anzupassen. Sie nutzte nicht wenige Gelegenheiten sie nachzuahmen und es ihnen gleich zu tun. In einigen Fällen führte das soweit, dass sich beispielsweise einige Lehrer über sie zu beschweren begannen: sie störe durch Schwatzen den Unterricht, raufe mit anderen Mädchen und sogar mit Jungs. Dies und anderes mehr tat sie nicht, weil sie es tun wollte oder weil es ihrem Charakter entsprochen hätte, sondern weil sie noch immer nicht vergessen, geschweige denn verarbeitet hatte, wie sie ohne jegliche Vorwarnung eines Tages aus ihrer behüteten Welt verbannt worden war.

      Dieser Tag ging ihr einfach nicht aus dem Kopf. Inzwischen vermutete sie, dass sie etwas getan hatte, was die Mutter zu diesem drastischen Schritt gezwungen hatte, wusste jedoch nicht, was es gewesen war und meinte, es vergessen zu haben. Fortan wurde eine gewisse Unsicherheit ihr ständiger Begleiter, denn die schiere theoretische Möglichkeit, dass ihr etwas Ähnliches noch einmal widerfahren könnte, war nicht von der Hand zu weisen. In ihr fand sie den Antrieb und die nötige Energie, um ihre geheimen Spionage- und Verhörtechniken zu verfeinern, mir deren Hilfe sie unbemerkt schon so manchem Erwachsenen das eine oder andere Geheimnis entlockt hatte, wenn sie herauszufinden versuchte, was von ihr erwartet wurde und was nicht. Auf diese Weise gelang es ihr aus eigener Kraft, ihren Status quo zu festigen. Sie richtete sich ein in dieser zweiten ungewollten Welt; und je klarer sie erkannte, dass sie in dieser Welt ihre eigenen Regeln erschaffen konnte, desto wohler fühlte sie sich, ohne jedoch ihre geliebte wie auch vermisste mütterlich behütete Welt jemals zu vergessen.

      Aus der Ferne betrachtet konnte ein jeder mit ruhigem Gewissen behaupten, Tania entwickle sich ganz normal. Sie fand einige Freundinnen in der Schule, mit denen sie ihre Geburtstage feierte, sie bekam viele gute Noten und nur wenige schlechte, zeigte sich zurückhaltend und freundlich, doch konnte ebenso bösartig und rücksichtslos wie alle anderen Kinder sein, was zwar in entsprechenden Situationen getadelt, doch ebenso in gewisser Weise toleriert wurde, wie sie längst bemerkt hatte. Kurz gesagt, Tania war ein Kind wie jedes andere, nur das sie es deshalb war, weil sie ständig ihr Umfeld überwachte und zu sich in Beziehung setzte. Sie bemühte sich sehr und es kostete ihr einige Anstrengungen, sich ihren Beobachtungen entsprechend anzupassen. Doch sah sie in diesen Investitionen den Schlüssel zu ihrem Glück, der die Tür zu ihrer Unsicherheit zu schließen vermochte und ihr einzutreten und sich zu bewegen erlaubte in der zweiten Welt.

      Es kam die Zeit, in der ihre Freundinnen das andere Geschlecht entdeckten. Kaum hatte die erste einen Freund präsentiert, eiferten ihr auch schon andere nach und Tania meinte, nichts anderes als eine Seuche grassiere, die ihren Freundinnen die Sinne vernebelt hätte.

      Im Laufe der Zeit war es ihr gelungen, zu einer Vertrauensperson zu werden, mit der man über alles reden konnte. Deshalb wusste sie, dass nicht wenige Mädchen, die plötzlich so unsterblich verliebt waren, als wären sie niemals nicht verliebt gewesen, noch ein paar Tage zuvor keinerlei Interesse an Jungs gehabt hatten. Plötzlich sah sie sich von einer Horde wild knutschender Altersgenossen umgeben, die nicht mehr ihre Hände und Münder voneinander lassen konnten und sich an Stellen ihrer jugendlichen Körper krabbelten, küssten und berührten, an denen es ihr, wenn nicht absurd, so doch wenigstens vollkommen merkwürdig erschien.

      Tania war klar, dass all dies auch auf sie zukam. Sie ahnte, dass ihre Freundinnen sie bald ausfragen würden, ob es nicht einen süßen Jungen gäbe, den sie möge. Sie beschloss, die verbleibende Zeit, in der sie mit solcherlei Angelegenheiten nicht konfrontiert wurde, in Ruhe verstreichen zu lassen.

      Nach einigen Monaten konnte sie sich der Notwendigkeit eines Freundes nicht länger entziehen. Sie entschied sich für Benjamin, einem Mitschüler aus der Parallelklasse, der bei den Mädchen ob seiner freundlichen Art und seines guten Aussehens nicht gerade unbeliebt war. Dass keine andere bisher mit ihm zusammengekommen war, lag in seinem vergleichsweise weit entwickelten männlichen Äußeren. Seine stark behaarten Arme und Beine nämlich sowie die unschönen Pickel in seinem Gesicht, gereichten ihm ebenso zum Nachteil wie seine markanter werdenden Gesichtszüge. Bezüglich seiner ungegelten Haare entbrannte unter den Mädchen sogar eine angeregte Spekulation über die Ursachen, in die recht schnell die Fragen einbezogen wurden, wie es um seine Brustbehaarung bestellt war und ob er sich die zweifellos sprießenden Schamhaare rasiere oder nicht. Obwohl Benjamin also einige interessante Eigenheiten besaß, konnte man so einen Kerl nie und nimmer vor seinen Freundinnen als süß bezeichnen – und das war ein kaum zu kompensierender Makel. Außerdem hatte er es fertig gebracht, mindestens zwei Mädchen aus Tanias Freundeskreis, die sich um ihn bemüht hatten, einfach abgewiesen zu haben. Da ihm dasselbe ungebührliche Verhalten gerüchteweise in drei bis sieben weiteren Fällen nachgesagt wurde, wussten die Mädchen nicht, was sie von ihm halten sollten. Dass Tanias Wahl dennoch auf ihn fiel, war wohlüberlegt und hatte rein rationale Gründe.

      Wochenlang hatte sie sich den Kopf zerbrochen, wer als ihr Freund in Frage käme. Benjamin wurde es deshalb, weil er nicht wie so viele andere Jungs dauernd blöde und anzügliche Sprüche machte. Er war ein ruhiger Typ, mehr Mann als Junge, war anerkannt und galt als gescheit. Der wichtigste Grund aber war, dass sie davon ausging, er wäre nicht an ihr interessiert. In diesem Falle würden ihre Freundinnen bestimmt

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