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Ein vergessener Gott
Bereits bei seiner Geburt (wenn man im Falle eines Gottes überhaupt von Geburt sprechen kann) vor einigen tausend Jahren war Morpheus’ Schicksal besiegelt. Als Sohn des Hypnos und einer namentlich nicht bekannten Mutter war es seine Bestimmung, durch den Schlaf der Menschen zu wandeln und ihnen Träume zu schenken. Dieser Aufgabe kam er über einen langen Zeitraum gewissenhaft nach. Es gab keinerlei Beschwerden, die auch nur den geringsten Zweifel an seiner Tüchtigkeit aufkommen ließen. Wie sollte es auch anders sein, fragt man an dieser Stelle zu Recht, schließlich ist hier von einem Gott die Rede.
Doch ganz so einfach darf man sich das Götterdasein nicht vorstellen. Es war Morpheus nicht möglich, auf bestimmte Aspekte seines Wirkens Einfluss zu nehmen, obwohl es keinerlei Vorschriften gab, die reglementierten, wie er seine Arbeit zu verrichten hatte. Dennoch war er alles andere als frei; er war gefesselt an seine Bestimmung, die ihm keine Wahlmöglichkeit ließ und ihn festlegte auf das Erschaffen von Träumen, ganz gleich, ob ihm das genügte, vielleicht sogar gefiel, oder nicht.
Morpheus tat, was vermutlich jeder andere Gott an seiner Stelle auch getan hätte. Er variierte die Gestalt, in der er den Schlafenden erschien, veränderte die Länge der Träume, bewirkte verschiedene Arten ihrer Intensität und schlich stets auf verschiedenen Wegen in den Schlaf der Menschen hinein. Am liebsten jedoch sorgte er dafür, dass immer neue, bisher ungeträumte Träume geträumt wurden. All das tat er nicht zuletzt, um gegen die beginnende Eintönigkeit anzukämpfen, die nach mehreren tausend Jahren Dienst wohl keiner weiteren Erklärung bedarf. Auch Götter kennen den Begriff Tagesgeschäft, samt seiner Bedeutung.
Dieser Unannehmlichkeit zum Trotz hätte sich aus Morpheus’ Sicht am Verhältnis zwischen Göttern und Menschen niemals etwas ändern müssen. Doch die Geschichte endete nicht in der Antike. Viel Neues machte sich überall breit, viel Altes geriet in Vergessenheit. Auch die Götter der Griechen bekamen das zu spüren. Allmählich wurde die ihnen entgegengebrachte Verehrung anderen zuteil.
Morpheus und seine Kollegen unternahmen alles in ihrer Macht stehende, um dieser Entwicklung entgegenzuwirken. Seltsamerweise aber blieb ihnen jeglicher Erfolg versagt. Ihre Lage wurde umso misslicher, je mehr Zeit verging. Die Menschen hörten einfach nicht auf, sich von ihnen abzuwenden. Ihr Verhalten nagte an den Grundfesten ihrer Existenz, denn – das wussten die Olympier nur allzu gut – Götter, die erst einmal ihre Bedeutung einbüßt hatten, erlangten diese nie wieder.
Nicht nur Morpheus sah klar, dass der Untergang nicht mehr aufzuhalten war. Die Möglichkeiten der Götter waren erschöpft, tatsächlich waren sie den Menschen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, ob man das nun glauben mag oder nicht. In ihrer Agonie beschlossen sie deshalb, über die Schwächen und den mangelnden Glauben der Erdenbürger hinwegzusehen und sich so zu verhalten, als hätte sich nichts verändert. Sie gingen gewissermaßen in den Untergrund, taten einfach das, was sie seit ewigen Zeiten taten und warteten auf bessere.
Ihr Verhalten war zweifellos großmütig und stand ihnen gut zu Gesicht, doch ließ sich darin nicht die nötige Kraft finden, die wahren Gegebenheiten über einen unbegrenzten Zeitraum hinweg zu verdrängen. Die Jahrhunderte des schleichenden Vergessenwerdens forderten ihren Tribut, bewirkten ein zunehmendes Desinteresse der Olympier an den Menschen. Immer weniger kümmerten sie sich um deren Belange, bestimmten ihr Los, und selbst den Fällen, in denen sie das noch taten, fehlte die Schicksalhaftigkeit früherer Ereignisse, bei denen es nicht selten um Leben oder Tod ging.
Es mag unglaubwürdig klingen, entspricht aber der Wahrheit: an keinem einzigen Gott, den diese Welt kannte und kennt, ist die Zeit spurlos vorüber gegangen. Morpheus war da keine Ausnahme und steht stellvertretend für so viele seines edlen Geschlechts.
Wenn es ihm auch weiterhin mühelos gelang, so viele verschiedene Träume zu erschaffen, wie er nur wollte, und die verwirrendsten, absurdesten, schrecklichsten, aber auch die witzigsten und angenehmsten Bilder zu erzeugen, so schlich sich dennoch in sein Werk die tückischste aller Fragen hinein: die Frage nach dem Sinn. Denn was bedeutete es denn noch, den Sterblichen Träume zu schenken und zu entscheiden, ob diese nach dem Erwachen im Gedächtnis eines Menschen blieben oder unwiderruflich dem Vergessen anheim fielen? War er denn nichts selbst längst vergessen?
Im Gleichschritt mit diesen zermürbenden Fragen zogen weitere Jahrhunderte an ihm vorüber, so als wären sie nicht wie er irgendwo verankert, so als hätten sie keine Aufgabe, keinen Sinn, nichts zu erfüllen.
Eines Tages bemerkte Morpheus ein ihm bis dahin unbekanntes Gefühl, das offenbar in Zusammenhang stand mit seiner zunehmenden Unbekanntheit. Je mehr er in Vergessenheit geriet, desto größer und stärker wurde es. Erstaunt stellte er fest, dass es sich nur um Freiheit handeln konnte. Doch die Freude darüber hielt nicht lange vor, denn ihm wurde klar, dass allein das ausbleibende Gedenken der Menschen dafür verantwortlich war. Wie einen unnützen Gegenstand hatten sie ihn beiseite gestellt, hatten ihn aus dem Spiel genommen und nun saß er auf der Auswechselbank für Götter, die den Namen Reservebank nicht verdiente, weil es von dort kein Zurück gab. Es missfiel ihm, dass sich seine Freiheit auf diese Weise vollzog.
Im Zuge dieser Entwicklung überdachte Morpheus seine Rolle ohne jede Illusion. So bedeutungslos war er bereits geworden, dass niemand mehr auf die Idee kam, ihm etwas mehr oder weniger Kostbares zu opfern, damit er dem Bittsteller hilfreiche, angenehme oder erleuchtende Träume schickte. Keinerlei Ansprüche wurden noch an ihn gestellt, die Menschen erwarteten schlichtweg rein gar nichts mehr von ihm – warum auch, sie träumten ja alle. Endgültig frei war er, wie er meinte, konnte tun, was immer er wollte, ohne auf jemanden Rücksicht nehmen zu müssen.
Gegen seinen Willen zu solch einer Freiheit verurteilt, wandte sich der Gott beinahe vollständig von den Menschen ab. Er war enttäuscht, nach unzähligen Jahren treuer Dienste sein Andenken auf Erden realisiert und gleichzeitig beschränkt zu sehen in profanen Lexikoneinträgen, die zu allem Überfluss lediglich Informationen darüber enthielten, wie abergläubisch die Welt einst gewesen war.
Frei war Morpheus! Frei im Sinne einer bedeutungslosen, verantwortungslosen und inhaltsleeren Freiheit, die jeden Normalsterblichen um den Verstand gebracht hätte. Wie aber wirkt sich solch eine Freiheit auf einen Gott aus? Das ist sicherlich schwer zu sagen, doch in Morpheus’ Fall lässt sich eine kurze, bündige Antwort geben: endlich frei gegenüber sich selbst (und damit frei gegenüber absolut allem), wurde er zu dem, was er schon immer war: er wurde ein Gott! Fortan überließ er es dem Zufall und seiner Intuition, wen er mit welchen Traumbildern wann überkam und ebenso kümmerte er sich nicht länger darum, ob sein Treiben gänzlich folgenlos blieb oder wie auch immer geartete Wirkungen hervorrief.
So geschah es, dass Morpheus eines Tages, der viele Generationen zurück liegt, in jenen Stunden, in denen